Traumzeit
Känguruh-Ahne sei durch Merinda gekommen. Sie hatte auf einen Hügel gedeutet und gesagt: »Dort hat sie geschlafen. Sehen Sie ihre großen Hinterbeine, den langen Schwanz, den kleinen Kopf?« Und Joanna hatte lange auf den Hügel geblickt und schließlich geglaubt, ein schlafendes Känguruh zu sehen.
War das also die Antwort? Sollte sie in der Wüste nach versteckten Zeichen, nach Bildern Ausschau halten? Sie durfte das Land nicht mehr mit englischen Augen betrachten, sondern so, wie eine Ureinwohnerin es sehen würde.
Joanna versuchte angestrengt, sich an Sarah zu erinnern. Sie versuchte, die Landschaft mit ihren Augen zu sehen, und wirklich, nach einer Weile schien die Umgebung sehr viel interessanter zu sein. Felsen, Bäume und Wasserläufe wirkten anders. Vor ihrem innern und äußeren Auge machten sie eine subtile Verwandlung durch. Joanna musterte prüfend eine Felsgruppe. Konnten das die Umrisse eines Emu sein?
Sie lief auf die Felsen zu. Vor Hunger und Durst hatte sie Schwindelgefühle. Dort angekommen suchte sie nach etwas Eßbarem oder nach Wasser. Aber sie stand nur vor nacktem, hartem Gestein.
Joanna suchte weiter. Ein ausgetrockneter Wasserlauf zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie betrachtete die Biegung genauer. Erinnerte sie das nicht an eine Schlange? Sie lief dorthin, kniete nieder und grub im harten Lehm. Aber sie fand kein Wasser.
Sie stand auf und blickte sich mit Tränen in den Augen um. Die Natur schien sie zu verhöhnen. Sie sah Stätten der Traumzeit, die keine waren.
Eine heiße Welle der Verzweiflung stieg in ihr auf. Sie dachte an den armen Kapitän Fielding, der in einem notdürftigen Grab in der Wüste lag. Sein Traum, das Ende seiner Tage unter der Sonne der Fidschi-Inseln zu erleben, hatte sich nicht verwirklicht.
Sie sank wieder auf die Knie und schlug die Hände vor das Gesicht. Als die salzigen Tränen auf ihre Lippen tropften, hob sie überrascht den Kopf. Im ersten Augenblick glaubte sie, es seien Regentropfen. Dann sah sie ihre feuchten Hände. Sie leckte die Feuchtigkeit gierig ab und war sich bewußt, wie verzweifelt ihre Lage geworden war. Sie legte sich auf den Boden und starrte auf die trockene Erde. Ihr Blick fiel auf den Lederbeutel mit den Metallschnallen und den Initialen › JM ‹. Ja, dachte sie, John Makepeace. Mit ihm hatte alles begonnen. Sie dachte an die Aufzeichnungen ihres Großvaters. Er hatte sorgsam und hingebungsvoll Seite um Seite mit seiner Kurzschrift gefüllt. Wie nutzlos war das alles für sie in der jetzigen Lage. Er beschrieb in chronologischer Folge sein Leben bei den Aborigines, aber praktische Hinweise fehlten. Er schrieb, daß die Frauen auf Nahrungssuche gingen, aber er erwähnte nicht, wie sie das taten. Er sagte, die Sippe wandere zu Wasserlöchern, aber er beschrieb nicht, wie sie das Wasser fanden. Seine Aufzeichnungen waren nichts als wertloses Papier.
In plötzlicher Wut packte sie den Lederbeutel und warf ihn soweit sie konnte von sich. Er prallte gegen einen Stein und fiel mit einem dumpfen Geräusch auf die Erde. Während Joanna niedergeschlagen auf den Beutel blickte, fiel ihr ein, daß sie nicht nur die Aufzeichnungen, sondern auch die Urkunde, den Feueropal und das Tagebuch darin aufbewahrte. Deshalb stand sie langsam auf und nahm den Lederbeutel wieder an sich. Sie öffnete ihn und vergewisserte sich, daß der Opal nicht zerbrochen war, und sie betrachtete ihre Übertragung der Aufzeichnungen von John Makepeace. Ihr Blick fiel auf einen Satz, den sie geschrieben hatte:
Das Totem von Djoogals Sippe ist das Känguruh.
Bei diesem Satz durchzuckte sie es plötzlich. Sie schlug sich an den Kopf. Hatte sie denn bereits den Verstand verloren? Natürlich mußte sie einen Traumpfad finden und ihm folgen. Ihr Irrtum lag darin, daß sie geglaubt hatte, sie könne einen Weg erfinden. Es mußte der richtige Traumpfad sein, nicht einfach etwas, das an einen Emu erinnerte oder an eine Schlange oder an irgendein Symbol ihrer Wahl. Sie mußte genau wissen, welcher Traumpfad durch dieses Land führte, und wenn es sich um das alte Stammesgebiet von Djoogals Sippe handelte, dann mußte sie natürlich den der Känguruh-Ahne suchen. Sarah hatte ihr versichert, ihr Totem sei das Känguruh. Also würde sie auch den Traumpfad, der hier entlang führte, finden können!
Joanna stieg das Ufer des ausgetrockneten Wasserlaufs hinauf und sah sich noch einmal aufmerksam die Umgebung an. Diesmal suchte sie die uralte Spur, die die Känguruh-Ahne vor
Weitere Kostenlose Bücher