Traumzeit
rief ihre Totem-Ahne, den Schwarzen Schwan. Der Schwan erschien. Sie setzten sich auf seinen Rücken, und er flog mit ihnen in die untergehende Sonne nach Westen.«
Joanna blickte benommen auf die etwa zwanzig Männer, die über den staubigen Boden stampften, in die Luft sprangen und sich drehten. Ihre Körper glitzerten vor Schweiß. Die Frauen im Kreis nahmen leidenschaftlichen Anteil an der Geschichte, wie ihre Gesichter bewiesen, die im zuckenden Licht der Flammen noch wilder, gespenstischer und ausgelassener wirkten. Ihr Gesang mit seinem immer schneller werdenden Rhythmus hallte weit durch die Nacht.
Lisa stieß ihre Mutter an. »Du weißt doch sicher, was für eine Geschichte das ist …«
Joanna hörte ihre zitternde Stimme und sah in den Augen ihrer Tochter Staunen und Angst.
Sie sagte zu Naliandrah: »Du hast es also gewußt. Du hast die ganze Zeit gewußt, wer meine Großeltern waren und was sie hier getan haben. Naliandrah, bitte, sag mir, was ist mit ihnen geschehen.«
Aber die alte Frau schüttelte nur den Kopf und erwiderte: »Ich kann dir nichts sagen, Jahna. Die Antworten liegen in dir. Du mußt sie selbst finden.«
3
Niemand schlief in dieser Nacht. Der Tanz dauerte lange. Dann wurde wieder gegessen. Das Feuer brannte lichterloh, und die Gefühle schlugen hohe Wogen. Unter der Wirkung der
Pituri
-Blätter liefen auch Frauen in den Kreis und begannen, ihre eigenen Tänze zu tanzen.
Als der Morgen anbrach, dachte Joanna, alle seien müde und würden zu ihren Schlafplätzen und Lagerfeuern zurückgehen, um den ganzen Tag zu schlafen, wie es nach solchen Festen üblich war. Aber zu ihrer Überraschung brachen sie das Lager ab und zogen in Richtung Osten weiter.
Die Sippe nahm immer wenig mit. Um zu überleben, durften sie sich nicht mit Gegenständen und Besitztümern belasten. Naliandrah hatte die verantwortungsvolle und ehrenvolle Aufgabe, die kostbare Glut zu tragen, damit sie im nächsten Lager die Feuer wieder entzünden konnten. Alle anderen Frauen trugen ihre Grabstöcke, Körbe, Mahlsteine und ihre Säuglinge. Die Männer hatten nur ihre Waffen in der Hand. Manchmal gelang es ihnen, unterwegs ein Wallaby oder einen Emu zu erlegen. Bevor sie das Lager am
Woonona
-Platz verließen, rieben sie sich die Haut zum Schutz vor den Insekten mit Schlamm ein.
Joanna ging neben Naliandrah, die auf dem uralten Weg die ›Wegweiser‹ sang – Wasserläufe, Wasserlöcher und besondere Felsformationen, die alle von den geistigen Kräften der Ahnen erschaffen worden waren. Die alte Frau zeigte Joanna eine heilige Stätte, an der die Sippe Ocker für die
Corroborees
fand. Sie nannte diese Stelle das Dingo-Träumen. Ein ausgetrockneter Wasserlauf war das Träumen des Weißen Kranichs, und eine abgestorbene Akazie war das Ameisen-Träumen. Yolgerups Sippe verneigte sich ehrfürchtig vor den Geistern, die an solchen Stellen wohnten, und alle vermieden es, gedankenlos über die geheiligte Stelle zu laufen. Kein Stein wurde verrückt, kein Zweig berührt.
Die Sippe wanderte in einer lockeren langgezogenen Reihe der aufgehenden Sonne entgegen. Joanna bemerkte, daß trotz der Tänze und der Ausgelassenheit in der vergangenen Nacht alle munter und fröhlich waren.
»Was ist nur los mit ihnen?« fragte Lisa, »sind sie immer noch von den
Pituri
-Blättern so aufgekratzt? Sieh dir nur Coonawarra an. Sie ist so aufgeregt, daß sie beim leisesten Geräusch in die Luft springt. Und selbst der alte Yolgerup – er müßte doch nach einer solchen Nacht müde sein. Aber er unterhält sich angeregt mit den Männern und gestikuliert heftig. Was hat das alles nur zu bedeuten, Mutter?«
Joanna legte ihrer Tochter den Arm um die Schulter. »Ich bin sicher, wir werden es bald erfahren.«
Sie liefen durch den frühen Morgen, während die ersten Sonnenstrahlen auf die rote Wüste fielen. Nach einiger Zeit glaubte Joanna, der Wind trage ihnen seltsame Geräusche zu. Sie wanderten Meile um Meile in den glühenden Osten, und der Sand wurde bereits warm unter ihren Füßen. Und als der Wind kräftiger wehte, hörte Joanna immer deutlicher Lärmen aus der Richtung, in die sie gingen.
»Mutter«, sagte Lisa plötzlich, »hörst du das auch …?«
Es dauerte nicht lange, und Yolgerup blieb stehen und gab das Zeichen zum Anhalten. Als Joanna und Lisa die anderen erreicht hatten, sahen sie, daß die Sippe am Rand eines großen Plateaus stand. Die Welt schien plötzlich zu versinken. Zu ihren Füßen erstreckte sich bis zum
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