Traumzeit
lebten. Dort hausten die ruhelosen Geister der keltischen Häuptlinge, und es gab Robben, die sich in Frauen verwandelten und unschuldige Männer verzauberten.
Ganz Schottland war unheimlich. Offenbar trieben dort unzählige Gespenster und Dämonen ihr Unwesen, denn seine Großmutter, Lady Ann, hatte ihm von Kilmarnock in Schottland ein Tuch geschickt, auf dem eingestickt stand: »Möge der Herrgott uns beschützen vor allen Gespenstern, Dämonen und nächtlichen Poltergeistern.«
Während Colin seinem Sohn von den großen Schlachten des Clans erzählte und den tapferen Herren, die im Laufe von siebenhundert Jahren auf der Burg Kilmarnock gelebt hatten, wanderten Judds Augen zum offenen Fenster, wo die Sonnenstrahlen durch die Zweige der Ulmen und Erlen fielen. Er wollte da draußen sein, auf dem grünen Rasen in der heißen Sonne, wo der Kookaburra, der Rieseneisvogel, lachte, und die Känguruhs in großen Sprüngen bis in den Himmel zu fliegen schienen.
Colin bemerkte die Zerstreutheit seines Sohnes nicht. Seine Gedanken weilten in der Heimat seiner Ahnen, auf der Insel Skye, der größten der Hebriden. Man nannte sie auch die milde Winterinsel. Von ihrem einen Ende bis zum anderen waren es fünfzig Meilen. Dort hatte Bonnie Prinz Charlie Zuflucht gefunden, bevor er Schottland für immer verließ. Es war die Insel der Hirsche und der Adler, der dichten Wälder und klaren Flüsse, wo nach Sonnenuntergang die Drosseln sangen und Fledermäuse um die Türme verwunschener Kirchen kreisten. Die wilde und karge Insel Skye war ein Land der Heide, Moore und Sümpfe, der Granitberge und Eiswasserseen. Dort gab es Meeresbuchten, die so schmal und lang waren wie Fjorde. Die Burg Kilmarnock stand als große und uneinnehmbare Festung auf einer der felsigen Landzungen und war seit dem elften Jahrhundert, als Schottland noch Kaledonien hieß, der Stammsitz der MacGregors.
Colin träumte oft von seiner Heimat, wo die Steinadler ihre Kreise zogen und ein geheimnisvolles Ungeheuer aus der Vorzeit in den kalten und unergründlichen Tiefen von Loch Kilmarnock lebte. Colin sehnte sich danach, wieder einmal Gälisch, die ›Sprache des Herzens‹, zu sprechen. Und er wollte noch einmal beobachten, wie die Winternebel langsam die steilen Gipfel der Black Cuillins verhüllten.
Colin hatte die Heimat vor zwanzig Jahren als Neunzehnjähriger verlassen. Er und sein Vater, Sir Robert, hatten sich wegen der Vertreibung der Bauern zerstritten. Der alte MacGregor hatte beschlossen, die Verträge der Pächter nicht zu erneuern, um das Land als Schafweiden zu nutzen, denn er wollte mit Wolle und Fleisch seinen Reichtum vergrößern. Der junge Colin vertrat die Partei der vertriebenen Bauern. Aber er verlor die Auseinandersetzung und hatte geschworen, er werde nie zurückkehren. Schließlich war er vor acht Jahren aus Heimweh doch auf die Insel Skye zurückgekommen. Sein Vater weigerte sich, ihn zu sehen, aber seine Mutter, Lady Ann, empfing Colin mit offenen Armen. Sie gab ihm auch die Erbstücke, die jetzt sein Arbeitszimmer zierten. Für Colin war die Reise nicht vergebens gewesen, denn er besaß nun die Schätze der MacGregors, und er hatte eine Braut mit nach Australien gebracht.
Colin sah seinen Sohn an und dachte: Wie sehr er doch Christina gleicht. Mit jedem Jahr wurde Judd MacGregor mehr und mehr das Ebenbild seiner Mutter. Er hatte ihre sonnengoldenen Haare, die blaugrünen Augen und das sanfte gerundete Kinn mit der kleinen Einbuchtung. Colin konnte an dem Jungen nichts von sich entdecken; er besaß weder die pechschwarzen Haare der MacGregors noch die dunklen, tiefliegenden Augen. Der Kleine hatte bereits volle und sinnliche Lippen wie die seiner Frau, und die weichen, runden Wangen erinnerten eher an ein Engelsgesicht. Colins Mund dagegen war schmal und hart, sein Kinn kantig und vorspringend.
»Eines Tages, mein Sohn«, fuhr Colin fort, »wirst du der Laird von Kilmarnock sein. Wenn mein Vater stirbt, werde ich der Laird. Aber du kommst nach mir. Und dann wirst du all das erben.«
Aber Judd wollte ›all das‹ nicht erben.
Es klopfte, und der Butler erschien. »Dr. Ramsey meint, Sie können jetzt hinaufgehen, Mr. MacGregor.«
Vater und Sohn gingen nach oben. Als sie das Schlafzimmer betraten, ging Colin zu Christina und setzte sich auf den Rand der Chaiselongue. »Wie geht es dir, Liebste?«
Christina ruhte an Satinkissen gelehnt und hatte eine Fuchsdecke über den Beinen. Die Vorhänge waren zugezogen, um das helle
Weitere Kostenlose Bücher