Traumzeit
Frau sehnte sich nach diesem Schicksal. Pauline wußte, daß Flora McMichaels einmal eine sehr hübsche und lebensfrohe junge Frau gewesen und mit einem begehrten Mann aus guter Familie verlobt war. Aber Flora hatte ihren Zukünftigen durch einen Jagdunfall am Vorabend der Hochzeit verloren. Jetzt, dreißig Jahre später, galt sie bei all ihren Freundinnen als ›die arme Flora‹.
Pauline war klar, ein solches Schicksal konnte jede Frau jederzeit treffen, ohne daß sie es verhindern konnte. Während Pauline beobachtete, wie Flora McMichaels Colin verzückt anlächelte, dachte sie an verzweifelte, einsame Frauen und fragte sich, ob auch Joanna Drury zu ihnen gehörte. Miss Drury wohnte auf Merinda in Hughs Rindenhaus. »Ich schlafe jetzt bei den Arbeitern«, hatte Hugh Pauline berichtet. Aber das beruhigte sie wenig.
Sie mußte wieder an Hughs Erregung an dem Abend nach seiner Rückkehr aus Melbourne denken. Das lag drei Tage zurück. Er hatte von dem Lausbefall seiner besten Wollschafe und möglichen finanziellen Problemen gesprochen. Pauline hatte sich bis jetzt darüber keine Gedanken gemacht, aber plötzlich klangen diese Worte in ihren Ohren anders. Es kam ihr vor, als habe Hugh damit ankündigen wollen, daß er möglicherweise das Haus nicht bauen konnte.
Pauline erkannte erschrocken ihren Fehler. Sie hatte sich in Sicherheit gewiegt, anstatt wachsam zu sein. Plötzlich war für sie Joanna Drury nicht mehr das angestellte Kindermädchen, sondern die Rivalin.
»Liebe Christina, ich bin eigentlich heute gekommen«, sagte Pauline energisch und unterbrach damit die geschwätzige Flora, »um Sie und Colin und Judd zu einem Kinderfest einzuladen, das ich nächste Woche für den kleinen Jungen gebe, den Hugh aufgenommen hat. Ich finde, es wäre nett, ihn allen im westlichen Distrikt vorzustellen. Er soll uns kennenlernen und wir ihn.«
»Oh, das ist eine gute Idee«, sagte Christina, »und wie nett von Ihnen, Pauline. Das arme Kind muß sehr einsam sein. Colin, Liebster, wir müssen dafür sorgen, daß sich Judd mit dem Jungen von Hugh anfreundet. Wo ist denn mein Judd überhaupt?« fragte Christina. »Komm zu mir, mein Schatz.«
Judd verließ die Ecke, in der er stand, und ließ sich von seiner Mutter in die Arme schließen. Er wußte, sie mußte sehr krank sein, weil alle sie so behutsam und liebevoll behandelten.
»Ja«, sagte Pauline, während blitzschnell eine Idee in ihr Gestalt annahm, »es soll ein Gartenfest werden. Ich werde Clowns und einen Zauberer auftreten lassen. Adam kann sich dann mit den anderen Kindern anfreunden.« Und er soll auch Geschenke bekommen, dachte Pauline. Ich werde ihm ein Pony mit einem Wagen schenken, und er soll soviel Süßigkeiten haben, wie er will. Ich werde auf Lismore ein Zimmer mit dem schönsten Spielzeug für ihn herrichten. Wenn das Fest dann zu Ende ist, wird er nicht nach Merinda zurückwollen. Er wird ganz bestimmt bei mir auf Lismore bleiben.
Dann hat eine Joanna Drury ihre Schuldigkeit getan und kann gehen.
Kapitel Sechs
1
Es ging nicht mit rechten Dingen zu, daran zweifelte Joanna nicht länger. Sie war auf die Veranda gekommen und hatte vor der Tür sorgfältig mit einer Schnur zusammengebundene Federn gefunden.
So etwas war nicht zum ersten Mal vorgekommen. Seit ihrer Ankunft vor zwei Wochen stieß sie immer wieder auf merkwürdige Gegenstände. Glänzende Steine aus dem Fluß lagen unerklärlicherweise auf dem Fensterbrett; ein paar Wildblumen waren sorgfältig auf der obersten Verandastufe in einem Halbkreis angeordnet worden, vor zwei Tagen hing an der Eingangstür ein aus Flußgras und Menschenhaar geflochtener Reif – und jetzt diese Federn.
Wer brachte diese Dinge hierher und warum?
Joanna sah sich auf dem Hof um, wo man verängstigte Schafe vor dem Scheren durch trichterartige Gatter in die Pferche trieb. Der Lärm und der Gestank waren beinahe unerträglich.
Die Scherer waren einen Tag nach Joanna auf Merinda eingetroffen, und sie hatte gelernt, daß diese drei Wochen in jedem November der Grund für alles andere waren, was auf einer Farm den Rest des Jahres über geschah. In dieser Zeit wurde das Vlies der Schafe geschoren und die Wolle nach England verschifft. Schurzeit bedeutete lange Nächte und frühe Morgen, harte Arbeit und wenig Schlaf, schnelles Essen im Stehen und Aufschub aller anderen Tätigkeiten, bis der Trupp der Scherer weitergezogen und die Wolle in den Hafen gebracht worden war. In dieser geschäftigen Zeit bekam sie Hugh
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