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Traurige Therapeuten: Roman (German Edition)

Traurige Therapeuten: Roman (German Edition)

Titel: Traurige Therapeuten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingomar von Kieseritzky
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Alkoholproblem beikommen könne. Da helfe nur eine Maßnahme, ich müsse vor der Konsumption eine Büchse Ölsardinen zu mir nehmen. Im Übrigen sei der Alkohol keine gute Lösung, denn die Welt bestehe – gerade an Katertagen – aus einem chaotischen Ensemble von Unverträglichkeiten ganz unerschütterlicher Persistenz. Setzen Sie sich Alltagssituationen aus, überprüfen Sie Ihre Reaktionen und Gegenreaktionen, und finden Sie die Unterschiede heraus; der Mensch ist auch in seiner Schwäche ein distinktionsfähiges Wesen.
    Noch immer Januar, aber nahe am Ende.
    Fest entschlossen, meine Restkapazitäten und die mageren Willensressourcen für die phänomenale Idee des Alkoholismus (eine Art Rechtfertigung) ins Feld zu führen, war ich gezwungen, meinen Analytiker Cordes zu besuchen, koste es, was es wolle. Ich bestieg sogar ein öffentliches Verkehrsmittel, eine Straßenbahn, nachdem ich zu Hause mühsam die Grundlage für diese ekelhafte Exkursion geschaffen hatte – eine Dose Ölsardinen, solche ohne Rückgrat, und danach zwei Gläser Armagnac; ach, viele Leute, viel Enge, viel Gestank und Handschuhe nützen gegen Hyperpopulation wenig. Auch viel Schweiß. Am unangenehmsten sind mir die undefinierbaren Gerüche, wahre Miasmen. Bekam prompt, gemäß den Gesetzen der inneren Apparatur, wieder einen Herpes an der Oberlippe links; derart ausgestattet, betrat ich, behutsam schwankend, die Praxis des Dr. Cordes und klopfte dreimal an die mit Leder gepolsterte Tür; jeder Patient hatte ein anderes Klopfzeichen. Nach drei Minuten durfte man eintreten. In der Zeit hockte sich C. in einen schwarzen Kasten auf einen Küchenstuhl und machte von innen die Klappe zu.
    Sind Sie’s, fragte er verdrießlich, und ich bestätigte.
    Seit vier Jahren vertrug Cordes den Anblick seiner Patienten nicht mehr. Ich hätte gern gewusst, welche edlen Neurosen der Doktor heimlich pflegte.
    Irgendetwas stank so vor sich hin, und mir wurde noch ein bisschen übler. Ich öffnete das Fenster, da schrie C. aus seinem Kasten, seiner silence box auch in freien Stunden, nehme ich an, ich solle das Fenster wieder schließen wegen der Pollengefahr.
    Dabei sind Pollen Natur, die eigentliche Gefahr aber geht doch vom Menschen aus.
    Ich hasse Atopiker, sagte ich und schlug mit der Faust auf den Kasten.
    Sehr gut, sagte Cordes, eine ungeplante Interaktion, sind Sie mit den Ekelreaktionen weitergekommen?
    Ich erwiderte, ich hätte moralische Skrupel, aber technische auch, denn der Ekel als solcher sei eine so feine, sensible und edle Empfindung, der ich wegen meiner Schwäche und Ängstlichkeit nicht recht gewachsen sei. Ich müsse im Augenblick mit Empfindungen in kleineren Formaten auskommen, deshalb hegte ich nur einen matten, aber andauernden Widerwillen gegen alles.
    Alles sei zu viel, sagte C. streng, man müsse immer eine Wahl treffen, auf alles könne man nicht angemessen reagieren.
    Ich sagte, ich wolle ja überhaupt nicht mehr reagieren.
    Cordes sagte, ich wisse nicht, was ich wolle, ich sei ein hypersensibler Vollidiot oder Angstlust-Typ, der lediglich Probleme bei der Verarbeitung exogener Reize überwinden müsse.
    Die Gefahr, sagte ich zur Kiste, gehe vom Menschen aus, ich hätte wieder einen Herpes.
    Da erhob der Analytiker ein großes Geschrei, aber unartikuliert. Ich wartete ruhig ab. Der Choleriker in C. litt immer nur an kurzen Anfällen.
    Beschreiben Sie, sagte er nach einer Weile, Ihr Problem, aber fassen Sie sich extrem kurz.
    Ich zog mein Notizbuch zu Rate und sagte, ich litte ganz ungemein, aber nicht diffus, wie Dr. Guth behaupte, ich ertrüge meinen Anblick im Spiegel nicht mehr, ich finge an, meine Stimme zu verabscheuen, dabei neigte ich zum Selbstgespräch, weil ich nicht gesellig sei; ich begänne, mich vor meinen Sprechakten zu fürchten, und ich ertrüge keine Zeitungen, Filme und Bilder mehr, kurz, Informationen; und gegen Morgen wachte ich mitunter tränenüberströmt auf.
    Ängstlich wie ein Feldhase sei ich sowieso, das sei schon alles. Du lieber Himmel, sagte Cordes in seiner Kiste, und deshalb kommen Sie extra in die Praxis, wegen dieser Allerweltslappalien belästigen Sie mich? Sammeln Sie alle Symptome, und klassifizieren Sie sie, die Herstellung einer gewissen Ordnung schafft immer eine gewisse Klarheit.
    Sie müssen sich darüber klar werden, worunter Sie wirklich leiden, worauf Sie animos bis panisch reagieren und vor allem – in welcher Form. Entwickeln Sie mehr Distanz, bei Ihrem leidlich guten Ansatz zu einer

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