Traurige Therapeuten: Roman (German Edition)

Rasierklingen, und er schlägt stets von unten nach oben zu! Mit beiden Pfoten in seiner herrlichen Wendigkeit.
    Hat der Mann überlebt, fragte ich. Mir gefiel die Geschichte.
    Überlebt schon, sagte Glinz, aber nicht sein Gemächt, ich meine sein – Geschlechterapparat.
    Begreiflich, sagte ich, man hätte dem Honigdachs ein Glas Honig reichen müssen.
    Für diese artgerechte Betrachtung der Sache, sagte Glinz, sei es leider zu spät gewesen; man müsse wilde Tiere eben artgerecht halten.
    Wir verabschiedeten uns freundlich.
    Die Schildkröten müssten wahrscheinlich vor ihrer Vergesellschaftung im neuen Zoo-Habitat in die Therapie, das sei eine milde Quarantäne, geführt von einer Frau Dr. Loos-Habel, deren Ruf untadelig sei unter den Reptilien; sie habe einmal durch Mund-zu-Mund-Beatmung einer Babyboa das Leben gerettet, als sie an einem zu großen Kaninchen zu ersticken drohte.
    Sie hängen an die Tiere, sagte Glinz, es tut mir leid. Aber Tierschutz is keene Schimäre. Schaffen Se sich Göttinger Versuchsschweinchen an, lieb und anhänglich, Allesfresser, jelehrig und stubenrein – da brauchen Se keene Freundin nich … Die tun allet für Sie – bitte unterschreiben Sie doch noch dieses Protestdokument gegen innereuropäische Schlachtviehtransporte.
    Ich unterschrieb.
    Wer hat mich eigentlich denunziert, fragte ich an der Tür.
    Ein jewisser Lassow oder Rassow; ich dürfte es Ihnen eigentlich jar nich sagen, aber Sie sind mir sympathisch. Hier überreiche ich Ihnen, weil Sie es sind, unsere Vereinszeitschrift – Dein Freund das Frettchen , entzückende Tiere, frohsinnig und gesellig. Nichts spricht jejen einen Aufenthalt auf einem Dachboden wie diesem, na denn!
    Ach ja, dachte ich später während der Gesamtplanung, warum keine Frettchen, wollte ich doch mein Leben ohnehin mal wieder ändern.

 
    68 Um mich abzulenken, blätterte ich im grünen Notizbuch und fand unter Pragmatismus & Liebes-Evolutionen den Eintrag: s. Briefwechsel Spencer – Iron Singram, Karton XXI.
    Die Briefe fanden sich tatsächlich dort in einer Saffianledermappe, etwa 20 Stück mit dem handschriftlichen Vermerk: Transkribiert von Edward Singram.
Lieber Herbert Spencer,
schreibe Dir aus St. Petersburg. Januar, sehr kalt, aber Hotel leidlich, komme eben aus dem Pelzpalast, wo ich 400 First-Class-Zobel ergattert habe, und fand Deinen Brief nebst Essay. Schon interessant, dass, wie du ausführst, die Evolution dem Gesetz der Erhaltung von Materie und Kraft untersteht, ja, warum auch nicht – und worin sie so allgemein besteht – also Anhäufung (Integration) von Stoff unter gleichzeitiger Zerstreuung (Dissipation) von Bewegung. Und dies hat mich affiziert, dass die Entwicklung über relativ unbestimmter, unzusammenhängender Gleichartigkeit (Homogenität) wieder zu bestimmter, zusammenhängender Ungleichzeitigkeit (Heterogenität) bis zu einer Rückläufigkeit der Entwicklung, die Du Dissolution nennst – bis zum Aufnehmen, von dir als Absorption bezeichnet, sehr interessant! Nur was Du im Hinblick auf die Bewegung (oder Entwicklung mit begleitender Auflösung (Desintegration)) meinst, das habe ich nicht kapiert, aber es war ein wodkareicher Tag. Du solltest vielleicht eine populäre Fassung Deiner Theorien für Pelzhändler verfassen. Aber gute Ideen hatte ich bei der Lektüre durchaus.
Habe gerade eine angenehme Affäre mit einer Dame namens Nadja, sie leidet an sog. Zufällen und hat niedliche hysterische Anfälle. In Behandlung ist sie bei einem Dr. Ossipowitsch, der mit Therapien arbeitet, dass sich einem der Pelz sträubt. Will nicht weiter darauf eingehen – jedenfalls kam ich über Deine Theorie auf einige Analogien zwischen den allgemeinen Entwicklungsgesetzen und der Liebes-Mechanik.
Was ist diese Emotion anderes als die Integration von Stoff bei gleichzeitiger Dissipation männlicher Kräfte – und bald schlägt die schöne Homogenität um in die übliche Heterogenität und die darauffolgende Dissolution, jenseits der Absorption und dem Finale, was Deiner vortrefflichen Idee der Desintegration vollkommen entspricht.
So viel für heute.
P.S. 1: Von der Idee, eine Schriftstellerin heiraten zu wollen, rate ich ab.
Auch wenn es George Eliot ist, wie Du schreibst, von der ich noch nie ein Buch gelesen habe. Bin kein großer Leser. Die wenigen Schriftsteller, die ich auf den Geschäftsreisen kennenlernte, waren immer eitle, ziemlich blöde Burschen wie z.B. Strindberg, den ich in Stockholm durch einen dummen Zufall kennenlernte