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Traurige Therapeuten: Roman (German Edition)

Traurige Therapeuten: Roman (German Edition)

Titel: Traurige Therapeuten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingomar von Kieseritzky
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er habe sie leider nicht alle präsent.
    Welche Tiere ich noch hielte?
    Einen alten Kater, sagte ich, und einen blinden Ara.
    Det sei nich verboten, sagte Herr Glinz, aber die Schildkröten. Er setzte sich nachdenklich in meinen Ohrensessel und strich den roten Vollbart; auch sein Haupthaar war schmutzig rot und erinnerte mich an einen nicht sehr gesunden Orang-Utan.
    Man könne sie dem Zoo überlassen, sagte er dann, zwei Plätzchen seien vakant. Für den Transport sorge seine Organisation, ich käme dann mit einem Unkostenbeitrag billig davon. Schildkröten auf einem Dachboden voller Staub, ohne Sonne, ohne Tümpel! Auch große Land-Schildkröten bedürften des Wassers … Er ritt noch eine Weile auf dem Fehlen eines Tümpels herum. Melmoth und Yvette fraßen gleichmütig weiter.
    Die sehen echt traurig aus, sagte Glinz.
    Das sei das Wesen der Schildkröten, sagte ich, getrennt von fließendem Wasser und der Sonne, wird man wahrscheinlich melancholisch.
    Ach ja, sagte Glinz und beobachtete die beiden. Wie alt sie wohl seien, das sei die Frage.
    Melmoth, sagte ich, das Tier mit den drei Beinen, gehörte meinem Urgroßvater Iron. Er sei älter als Yvette und männlichen Geschlechts. Stellen Sie sich vor, Sir Herbert Spencer, ein berühmter Philosoph aus England, schaukelte ihn als Kind auf den Knien – ich meine natürlich Melmoth und nicht Iron. Nur keine Verwechslungen!
    Natürlich, sagte Glinz, selbstverständlich, wie alt war denn dieser Herr Spencer?
    Warten Sie einen Moment, sagte ich, das muss ich nachschlagen. Es stand alles im grünen Notizbuch.
    Mein Urgroßvater schenkte diese Schildkröte, also Melmoth, Sir Spencer 1881 – die beiden waren befreundet –, aber warten Sie. Spencer hat auf Melmoth’ Rückenschild eine Signatur hinterlassen und einen Spruch eingeritzt, eine Sentenz –
    Tierquälerei, sagte Glinz.
    Herbert Spencer, sagte ich.
    Wir beugten uns über Melmoth, der seine dicke graue Zunge nicht zurück ins Maulinnere befördert hatte. Er sah ein bisschen blöde aus oder hatte einen sehnsüchtigen Gedanken an Cognacpralinen. Die Sentenz hieß: Semper homo bonus tiro est , darunter H.S.
    Wat soll det bedeuten, fragte der Tierschützer, er könne kein Latein.
    «Ein guter Mensch bleibt immer ein Anfänger», sagte ich, das wäre meine unbeholfene Übersetzung.
    Da is wat Wahres dran, sagte Glinz und kratzte sich den roten Schädel. Soso, der Philosoph Spencer 1881 …
    Tod Disraelis in England, sagte ich hilfreich, Mark Twain publiziert seinen Bummel durch Europa .
    Mir leider, sagte Glinz, im Augenblick keen Begriff.
    Ich schlug Böcklins Toteninsel vor.
    Die kenn ick, sagte Glinz begeistert. Kenn ick, ha ick zweimal Urlaub gemacht.
    Es war gegen 12 Uhr, und die Sonne warf einen strahlenden Blick durchs blinde Atelierfenster auf die polierten Panzer der beiden Schildkröten; auf den konvexen und konkaven Oberflächen spiegelte etwas wie ein matter Regenbogen. Ich poliere ihre Panzer, sagte ich zu Glinz, jeden Abend mit Olivenöl.
    Hoffentlich kalt jepresst, sagte Glinz streng.
    Aber sicher doch, sagte ich, wo käme man sonst hin.
    Tja, sagte Glinz. Muss jetzt weiter. Ein Fall von Tierquälerei in der Droysenstraße 10, eine Blut-Tat, eine Kastration.
    Glinz wurde gesprächiger. Die Sonne verschwand wieder.
    Die Schildkröten zogen sich zurück; zuerst Yvette, dann wendete sich schwerfällig auch Melmoth und folgte seiner Geliebten.
    Allerliebste Tierchen, sagte Glinz, aber keene Artjerechtigkeit nich, tut mir leid.
    Was war das in der Droysenstraße, fragte ich, für ein Fall – wohl ein ähnliches Kaliber?
    Ach nee, sagte Glinz betrübt …, ’n Mann, stellen Se sich det vor, hält inner Zwei-Zimmerwohnung einen Honigdachs …!
    Mellivora capensis, sagte ich, herrliche Tiere! Sie gehören zu den Marderartigen, sein Bruder ist der Vielfraß.
    Sie kennen sich aber aus, sagte Glinz wohlwollend …, ja und eines Tages musste es passieren – es war eine Speisekammersituation: Der Honigdachs sucht Honig in dunkler Nacht, schmeißt natürlich viel ’raus, Marmelade von Schwartau sagt ihm nichts, mit Recht, wenn Se mich schon fragen – Besitzer kommt in die Kammer, der Dachs is voller Frust –, und da is passiert, was passieren musste.
    Was?, fragte ich.
    Kastration, sagte Glinz genussvoll.
    Oi, sagte ich, unter den Afrikanern ist der Honigdachs nicht umsonst gefürchtet.
    Wie wahr, sagte Glinz sehr prononciert, Mythen umweben ihn mit einem blutigen Schleier. Und seine Krallen sind so scharf wie

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