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Traurige Therapeuten: Roman (German Edition)

Traurige Therapeuten: Roman (German Edition)

Titel: Traurige Therapeuten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingomar von Kieseritzky
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Gießkanne sinken und starrte mich misstrauisch an.
    Kein Yorick in Sicht. Die Luft war angenehm. Die Sonne ging matt hinter einer wilhelminischen Familiengruft unter; in den Bäumen sangen die Amseln, erfahrene Meister abendlicher Elegien; manche übten noch mutierend, aber üben muss man auch im Stimmbruch.
    Eine Gruppe Stare (neben den Elstern meine Favoriten unter den heimischen Vögeln) hielt in der Blutbuche westlich des Grabes von Sudermann einen lauten Convent ab; hin und wieder schwieg das Völkchen, und eine Einzel-Stimme, wohl der Chef, sagte: Nee, negativ, und dann ging’s choral weiter.
    Mir war irgendwie poetisch zumute.
    Auf einer Bank rief ich meine Gedanken zur Raison, sie blieben diffus. Ich dachte an Edwards Tagebücher und Urgroßvater Irons Erinnerungen eines Jägers , leider unabgeschlossen. Da merkte ich sozusagen mitten in der Hose, subventral, ein gewisses Rühren, eine Unruhe und eine Art von nicht sehr dezenter Elevation, die sich ohne meinen Willen materialisierte, wenn das, dachte ich mit freudigem Erstaunen, der klinische Ausdruck für dieses Wunder ist.
    Natürlich stellte ich mir ein paar existentielle Fragen wie: Warum hier und jetzt, auf einem Friedhof und weder eine Notärztin noch der abtrünnige Kater in Sicht.
    Der glühende Punkt in der lumbalen Zone korrespondierte mit dem Gehirn, das schöne Vorstellungen erzeugte, auf die ich nicht weiter eingehen will …
    Freier Wille, dachte ich, denk an die Zeit … was ist Zeit … Wie lange dauert ein aktuelles ‹Jetzt›, ehe es durch ein anderes ersetzt wird usw.
    Wie sagte der alte Aristoteles:
    Nur die Gegenwart ist gegeben, die Vergangenheit ist nicht mehr, die Zukunft ist noch nicht. Irrtum, sagte ich … meine Gedächtnis-Leistung, die Retention, ist unter dem Einfluss der Firma Pfizer im Augenblick – Jetzt – Gegenwart und extrem aktuell – herrliche Vergangenheits-Punkte, eine wahre Kette jetzt wieder aktueller sinnlicher Gegenwart … Haut, Parfüm, Lippen, Umarmungen – lauter herrliche Daten, die alle einmal Jetzt-Momente waren und jetzt wieder sind.
    Ach, ich überließ mich wollüstig diesen Konfusionen da auf der Bank in der Dämmerung. Wind kam auf, die Bäume flüsterten mit den armen Toten. Ich sagte mir im pharmakologischen Traum: Du träumst nicht, es funktioniert ja, dank Pfizer; und Aristoteles liegt schief mit seiner Zeit-Theorie, das zeigen doch die lebhaften Engramme. Der große Erzieher Alexanders hatte auch schon in der Mäuse-Frage geirrt …
    Mir fielen die Vorfahren baltisch-russischer Provenienz ein – Iron, Edward und Max. Die hätten keiner Ermunterung durch die Chemie bedurft, die nicht! Aber ein Wunder immerhin.
    Ach ja, dachte ich und schrieb’s dann auf – die Wunder der Natur, die heiligen Mirakel des Eros; muss das alles nachlesen. Iron, der alte Zobeljäger und Pelzspekulant in St. Petersburg, ließ sich nach glücklichen Auktionen von Freund Duschinskij einen ganzen Posten Damen in seine Suite bringen; der war schwul und kurzsichtig, so dass seine Auswahl sehr eigensinnig war – gleichwohl, Iron liebte sie alle, die Kurzen, die Dicken, die Dürren und die Schönen.
    Auf einen kahlen Grabhügel ohne Namen, ohne Stein streute ich 200 g Trockenfutter für meinen Kavalier auf Achse und verließ die kleine Nekropole.

 
    79 Nach dreizehn Stunden Schlaf (eine Stunde mehr als Donald D. in seinen besten Zeiten) war ich bereit für die Große Exkursion, eine bescheidene ‹Grand Tour›, kurz, für eine Besuchsrunde, die in baltischen Familien des 19. Jahrhunderts so beliebt wie auch üblich war. Man reiste mit leichtem Gepäck, besuchte liebe alte Freunde und Freundinnen, Bekannte und Verwandte auf ihren Gütern, genoss je nach Saison die Küche und den Keller, plauderte, ließ sich zur Jagd einladen und reiste nach einer Woche oder einem Monat wieder ab; es kam in diesen Zeiten nicht so darauf an, die Gastfreundschaft ist heilig, und wer sie gesund übersteht, nimmt sie gern noch mal in Kauf im nächsten Gut …
    Ein entfernter Großonkel von mir, Gotthard, verbrachte sein ganzes Leben auf diese Weise, bis er 1891 im Gouvernement Pleskow an einer gefüllten Wachtel erstickte. So ein Bolustod ist für alle Beteiligten eine unangenehme Sache; da die Gastgeber den ‹Heimlich-Griff› nicht beherrschten, ging der Gast dahin ohne Wiederkehr.
    So viel zur Gastfreundschaft; man soll sie mit Vorsicht in Anspruch nehmen.
    Als methodischer Mensch hatte ich eine Liste angefertigt, die Adressen

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