Traveblut
melden«, sagte Andresen. »Wo sind Sie gerade?«
Eine kurze Pause entstand.
»Hallo? Sind Sie noch dran?«
»Ich muss es Ihnen jetzt sofort erzählen«, sagte sie plötzlich. »Andernfalls ist es vielleicht zu spät.«
»Andernfalls ist was zu spät?«
»Hören Sie, Herr Kommissar«, sagte Gisela Sachs. »Sie müssen wissen, dass das, was ich Ihnen jetzt erzählen werde, nicht einfach für mich ist. All die Jahre habe ich mich immer wieder gefragt, ob sie vielleicht doch recht hatte mit dem, was sie mir damals erzählt hat. Ich wollte es einfach nicht wahrhaben, das müssen Sie mir glauben.«
»Bitte der Reihe nach«, sagte Andresen. »Wer ist diese Person, von der Sie sprechen? Und was wollten Sie nicht wahrhaben?«
Gisela Sachs atmete laut aus und suchte nach den richtigen Worten. Es hörte sich an, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. »Ich habe das wirklich nicht gewollt«, sagte sie flehend. »Bitte glauben Sie mir das.«
»Erzählen Sie jetzt bitte«, sagte Andresen ungeduldig. Er wollte endlich wissen, was Jimmy Vosberg zu einem zweifachen Mörder gemacht hatte und was damals geschehen war.
»Ich sage es Ihnen«, entgegnete Gisela Sachs nach einem Moment. Sie schien sich etwas beruhigt zu haben. »Das Ganze liegt schon mehr als zehn Jahre zurück. Ich war damals bereits eine ganze Zeit lang Schulleiterin, und wir hatten nie irgendwelche Probleme an unserer Schule. Es war eine schöne Zeit. Eines Nachmittags betrat dann Katharina Kock mein Büro und bat um ein vertrauliches Gespräch. Wie Sie wissen, war Katharina Kock zu dieser Zeit als Vertretungslehrerin an unserer Schule tätig. Sie war aufgebracht und hatte einen ungeheuerlichen Verdacht, von dem sie mir erzählen wollte. Ich reagierte etwas barsch und sagte ihr, sie solle sich nicht so aufspielen, dadurch würden ihre Chancen auf eine feste Stelle auch nicht steigen. Der größte Fehler meines Lebens.«
Es gibt angeblich jemanden, der einen Verdacht hat. Andresen erinnerte sich wieder an den Eintrag in Brigitte Jochimsens Tagebuch. Dieser Jemand hatte also offenbar für Katharina Kock gestanden.
»Erzählen Sie mir, was Katharina Kock Ihnen gesagt hat. Und zwar alles, bis ins kleinste Detail.«
Gisela Sachs atmete geräuschvoll aus. Andresen spürte, dass es ihr schwerfiel, über die Wahrheit zu sprechen.
»Bitte glauben Sie mir, dass ich nicht gewollt habe, dass es so endet«, sagte sie schließlich. »Sie müssen es mir glauben.«
»Ob ich Ihnen glaube oder nicht, spielt momentan keine Rolle, Frau Sachs«, sagte Andresen barsch. »Ich will verdammt noch mal endlich wissen, welchen Verdacht Katharina Kock damals gehabt hat.«
»Es ging um den unfassbaren Verdacht, dass ein Schüler von einer Lehrerin mehrfach sexuell missbraucht worden war.«
Das war es also gewesen. Das Motiv, das so lange im Unklaren geblieben war. Jetzt ergab vieles einen Sinn. Aber wer war die Lehrerin gewesen, die Vosberg missbraucht hatte? Brigitte Jochimsen schied aus. Sie hatte Vosberg und seine Peinigerin damals selbst erwischt. Und Katharina Kock hatte einen Verdacht gehabt. War es etwa Hanka Weichert?
»Der Schüler war Jimmy Vosberg?«, vergewisserte er sich.
»Ja.«
»Und die Lehrerin? Wer hat Jimmy Vosberg das angetan?«
»Es war …« Gisela Sachs atmete schwer. »Es war Karin Busch.«
Andresen hielt inne. Karin Busch? Er erinnerte sich an den Namen; es war die Lehrerin der Blücher-Schule, die bei ihren Befragungen krank gewesen war. Ida-Marie hatte sie zu Hause besucht.
»Das heißt also, dass Vosberg es auf Karin Busch abgesehen hat«, murmelte Andresen. »Aber weshalb mussten Brigitte Jochimsen und Katharina Kock sterben?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Gisela Sachs. Sie schien jetzt wieder den Tränen nah zu sein.
»Dann sage ich es Ihnen«, sagte Andresen energisch. In diesem Augenblick wurde ihm das ganze Ausmaß der Tragödie bewusst. Er schäumte plötzlich vor Wut. »Brigitte Jochimsen wusste die ganze Zeit Bescheid, dass Jimmy Vosberg von ihrer Kollegin missbraucht wurde. Statt einzuschreiten, hat sie jedoch geschwiegen. Sie hat diese Frau gedeckt. Wissen Sie eigentlich, was das bedeutet?«
Gisela Sachs schwieg.
Andresen musste daran denken, dass Brigitte Jochimsen nach ihrer Zeit als Lehrerin im Kinderschutz aktiv gewesen war. Er war fassungslos darüber, wie ein Mensch derart heuchlerisch sein konnte.
»Das Gleiche gilt im Übrigen für Katharina Kock«, fuhr er fort. »Wobei sie wenigstens versucht hat, Sie
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