Traveler - das Finale
aus?«
»Entsetzliche Bilder.«
»Von Mord und Folter?«
Zum ersten Mal musste Mr. Kelso lächeln. »Nein, viel
schlimmer. Das Museum stellte Bilder von Frauen und Kindern aus, von Essen und Blumen. Weite Landschaften von großer Schönheit. Die Leute, die hier festsitzen, haben diese Gemälde natürlich gehasst. Einer der ersten Diktatoren meinte, die Ausstellung verwirre die Leute und verstärke nur ihre Unzufriedenheit. Deswegen kam ein Trupp von Männern her, die alle Statuen mit dem Hammer zerschlugen und alle Bilder in einem riesigen Feuer verbrannten. Die einfältigen Bewohner dieser Stadt sind stolz darauf. Ihre eigene Ignoranz verleiht ihnen Stärke und Sicherheit.«
»Dies ist auch Ihre Stadt.«
Kelso hob die Arme aus dem Lumpenkostüm und schob sich den Schleier aus der Stirn. »Das Gefühl habe ich nicht. Mit den anderen teile ich nur den Wunsch, von hier zu entkommen. Ihr Vater verschwand in einem Zugangspunkt, aber ich konnte ihm nicht folgen.«
»Ich bin gekommen, um Maya zu suchen.«
»Sie meinen den Dämon? So wird sie von den Wölfen genannt. Ich habe sie zwei Mal von Weitem gesehen. Sie trägt ein Schwert und geht immer in der Mitte der Straße.«
»Wo kann ich sie finden?«
»Wozu wollen Sie das? Sie wird Sie töten. Vielleicht hatte sie früher einmal ein gutes Herz, aber das Gute kann hier nicht überdauern.«
»Das glaube ich nicht.«
Mr. Kelso lachte. »Sie tötet jeden. Ausnahmslos. Manche Leute sagen, sie hätte keine Augen mehr. Man sieht nur zwei blaue Steinscherben.«
»Können Sie mich zu ihr bringen?«
»Und was habe ich davon? Können Sie mich von hier wegbringen?«
»Das kann ich Ihnen nicht versprechen«, sagte Gabriel leise. »Ich komme aus einer anderen Sphäre, Sie hingegen haben Ihr Leben hier begonnen.«
»Ich bin anders als die anderen hier, das schwöre ich!«
»Jeder Mensch bekommt in seinem Leben die Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen. Wenn Sie sich für besser als die anderen halten, müssen Sie es mir beweisen. Vielleicht werden Ihre guten Taten Sie befreien, wenn alle anderen vernichtet sind und der Zyklus von Neuem beginnt.«
»Halten Sie das wirklich für denkbar?«
»Mr. Kelso, ich muss Maya finden. Wenn Sie ein guter Mensch sein wollen, können Sie damit anfangen, indem Sie mir helfen.«
Kelsos Lippen zuckten, so als bereite es ihm Schmerzen, ohne Schleier vorm Gesicht dazustehen. »Ich habe die Unterhaltungen der Wölfe belauscht. Sie haben den Dämon in der ehemaligen Bibliothek festgesetzt. Wahrscheinlich ist sie längst tot.«
»Bringen Sie mich hin.«
»Wie Sie wollen.« Kelso zog sich den Schleier übers Gesicht und machte sich daran, die Treppe wieder hinunterzusteigen. »Gabriel, Sie erinnern mich an Ihren Vater.«
»Wie meinen Sie das?«
»Er hat nicht gelogen.«
FÜNFZEHN
F rüher einmal hatte Maya ihr Leben als eine Geschichte mit einem Anfang, einer Mitte und einem Ende betrachtet. Während ihrer Zeit auf der Insel hatte sie jedoch aufgehört, in chronologischen Kategorien zu denken. Sie versteckte sich in den Ruinen und kämpfte auf der Straße, aber nichts davon hatte mit ihrer Vergangenheit zu tun. Maya hatte den Eindruck, durch einen Sumpf zu rudern, der Schauplatz einer immensen Schlacht gewesen war. Gelegentlich stieg eine Leiche an die Oberfläche, und dann sah sie ein Gesicht, erinnerte sich an einen Namen – bis das Boot weiterglitt und das Gesicht in Schlamm und Seegras zurücksank.
Die Vergangenheit verblasste, und der gegenwärtige Moment war überdeutlich. Sie saß oben auf der Säule gefangen, der dreistöckigen Ruine aus Stein und Ziegeln, die sich in der Mitte der halb zerstörten Bibliothek erhob. Mayas Welt war klein: ein Holztisch, eine kleine, gekachelte Fläche und ein Lagerraum mit schwarzen Pappkartons voller Zeichnungen und Drucke, die nichts anderes zeigten als Engel. Am Anfang ihrer Gefangenschaft hatte sie die Illustrationen durchwühlt und festgestellt, dass keine der anderen glich. Es gab gütig lächelnde Engel genauso wie Racheengel, die mit Peitschen und Schwertern auf Sünder eindroschen.
Normalerweise hätten die Wölfe Pickering auf der Stelle umgebracht, wäre er der Patrouille ins Netz gegangen; aber nun konnte sich der frühere Damenschneider mit dem Verrat an Maya einen gewissen Schutz erkaufen. Er war im Lesesaal im dritten Stock geblieben, hatte unter den Holztischen geschlafen
und über einer Gaslampe Essen in Konservendosen erwärmt. Wann immer ein fremdes Gesicht in der
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