Traveler - das Finale
überwachte ihr Leben, aber gleichzeitig bestätigte es dem Einzelnen, am Leben zu sein.
Hollis kehrte an den Tresen zurück, bestellte einen Smoothie, eine Schüssel mit heißer Nudelsuppe und eine Zahnbürste. Er beobachtete zwei andere Gäste des Cafés, die im umfassenden Sortiment von Erwachsenencomics und Pornoheften stöberten. Sie schenkten dem Ausländer kaum Beachtung. Das Gran Cyber Café war nicht der Ort, an dem reale Bekanntschaften geschlossen wurden.
Als er wieder in seinem Kabuff war, zog er die Pistole aus dem Hosenbund und steckte sie in die Canvastasche. Im grauen Dämmerlicht des Cafés begannen die Bilder von den drei toten Männern ihren Schrecken zu verlieren. Hollis verstand, dass das Café ein Teil des Systems war, doch gleichzeitig ermöglichte es eine zeitweise Flucht aus den Kontrollzusammenhängen. In der Vergangenheit waren die Leute vor der
Obrigkeit in den Wald oder in die Kirche geflohen, aber heutzutage hingen selbst an diesen Orten Überwachungskameras. Im Gran Cyber Café konnte der Kunde sich in einer Fantasie verlieren oder sich im Internet als ein anderer ausgeben. Man war ganz man selbst und zugleich ein Niemand. Auch darin zeigte sich wieder nur die Macht des Systems: Selbst der letzte Rückzugsort wurde kommerziell ausgeschlachtet.
Obwohl sich seine Zelle von innen nicht verriegeln ließ, gab Hollis der Erschöpfung nach und schlief ein. Als er die Augen wieder öffnete, war es zehn Uhr morgens, ohne dass sich an der künstlichen Atmosphäre des Cafés irgendetwas geändert hätte. Im öffentlichen Bereich war es kühl und still, und die Cafégäste dämmerten im Dauerzwielicht vor sich hin.
Die Haie des Bildschirmschoners glitten vor einem türkisblauen Hintergrund über den Monitor. Der Fernseher in Hollis’ Zelle lief immer noch, aber der Ton war nur über Kopfhörer zu hören. Hollis beobachtete die junge, aufgeweckte Nachrichtensprecherin. Im Norden der Insel Honshû fiel Schnee. Im Nahen Osten war eine Autobombe explodiert, und irgendwo in Afrika hatte es einen Putsch gegeben. Der US-Präsident und der japanische Premierminister schüttelten einander die Hand wie zwei elektronisch gesteuerte Puppen in einem Vergnügungspark.
Plötzlich veränderte sich das Bild, und Hollis sah sich selbst in einer grobkörnigen Schwarz-Weiß-Aufnahme durch den Korridor im zweiten Stock des Liebeshotels rennen. Die Nachrichten zeigten Bilder von Krankenwagen, in denen die Leichen abtransportiert wurden, während sich Reporter und Kameraleute hinter der Polizeiabsperrung drängelten. Ein Mehrfachmord wie dieser geschah in Japan höchst selten und wurde von den Medien entsprechend ausgeschlachtet. Auf dem Bildschirm erschien Hollis’ verschwommenes Porträt, darunter blinkte eine Telefonnummer.
Hollis stellte sich auf den Ledersessel und spähte über den Rand seiner Kabine hinweg. Die gepiercte Frau, die ihn im Café begrüßt hatte, war verschwunden, und ein junger Mann mit weiß blondiertem Haar hatte ihren Platz eingenommen. Hollis setzte seine Sonnenbrille auf, schlich sich aus dem Café und lief zum nächsten U-Bahnhof. Er hatte das Gefühl, sämtliche Überwachungskameras der Stadt verfolgten ihn auf seinem Weg durch die Straßen.
Kotani hatte einen ehemaligen Schüler erwähnt, einen jungen Mann namens Hoshi Hirano, der regelmäßig zum Tanzen in den Yoyogi-kōen ging, den riesigen Park im Osten Tokios. Hollis stieg an der Station Harajuku aus der U-Bahn und lief über die Fußgängerbrücke, die die Gleise überspannte. Es war kälter geworden, und vereinzelte Schneeflocken fielen vom grauen Himmel. Schon vor dem Eingang begegnete er einigen der zokus , der Stämme, die sich an jedem Sonntagnachmittag im Park trafen.
Er sah ein paar Mädchen im Teenageralter mit schwarzer Kleidung, weiß geschminktem Gesicht und roten Lippen, von denen Kunstblut tropfte. Schneeflocken wirbelten durch die Luft und blieben in auftoupierten Haaren hängen. Die schwarzen Kutten trafen sich am Ende der Fußgängerbrücke und schenkten der Konkurrenz – mit Satinröcken, Petticoats, weißen Söckchen und rosa Haarreifen – keine Beachtung.
Hollis betrat den Park und machte sich auf die Suche nach einer Rockabilly-Gruppe. Alle paar hundert Meter kam er am Treffpunkt einer neuen Clique vorbei. Ein zoku bestand aus jungen Männern auf Skateboards, die Mitglieder eines anderen fuhren Kunsträder. Die Anhänger eines dritten hatten sich schwarze Farbe auf Mund und Augen geschmiert und
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