Traveler - das Finale
zwanzig Meter entfernt. Die Wagons bebten wie Lastentiere, die erleichtert waren, die mühsame Reise hinter sich gebracht zu haben, und der Zug rollte in den in Hafennähe gelegenen Bahnhof von Mutsu ein.
Auf dem Bahnsteig war es kalt und windig. Billy rieb sich die Hände und lief los, um ein Taxi zu finden. Fünf Minuten später kehrte er in Begleitung eines jungen Mannes zurück, der verzweifelt bemüht war, sich einen Vollbart wachsen zu lassen.
»Er sagt, er sei der Aushilfsfahrer.«
»Was bedeutet, dass er sich verfahren wird.«
Billy lachte. »In Japan verfährt sich jeder. Aber immerhin kennt er den ›toten Ort‹. Da hat ein Konzern früher einmal eine Pestizidfabrik betrieben. Nachdem sie alle Bäume weit und breit vergiftet haben, wurde die Produktion nach China verlagert.«
Die drei Männer zwängten sich in einen mit Schlamm bespritzten Toyota und fuhren an einer Reihe von Fastfood-Restaurants vorbei. Am Ortsausgang hob sich eine Pachinko-Halle mit einem hohen, von Neonlichtern erhellten Turm vor dem verhangenen Himmel ab. Der junge Fahrer bog in eine Schotterstraße ein, und schon bald hatten sie die tote Landschaft im Umkreis der stillgelegten Pestizidfabrik erreicht. Obwohl der Boden schneebedeckt war, konnte Hollis erkennen, dass alle Bäume in der Gegend abgestorben waren. Die paar wenigen, braunen Fichten wirkten, als seien sie selbst zum Umkippen zu müde.
Sie kamen an einem Dutzend Wohnhäuser vorbei. Vor einem hielten sie an, damit Billy sich nach der Itako erkundigen konnte. »In Japan geht es zu wie auf einer seltsamen Party«, erklärte er. »Alle wollen höflich sein. Die Leute lügen und denken sich zur Not lieber eine Wegbeschreibung aus, als das Gesicht zu verlieren.«
Mehr als eine Stunde lang irrten sie durch ein Labyrinth aus Landstraßen. An einem Abhang geriet der Toyota auf einer vereisten Stelle ins Rutschen und krachte in eine Schneewehe. Alle stiegen aus, und Billy brüllte den Fahrer zusammen.
Etwa zehn Meter weiter stand ein Fertighaus mit Aluminiumverkleidung. Hollis sah eine alte Frau mit schwarzem Parka und roten Gummistiefeln herauskommen. Sie schlurfte über die von Kies bedeckte Einfahrt. Sie bewegte sich so langsam und stetig durch den Schneematsch, als könne sie höchstens ein Blitzschlag von ihrem Kurs abbringen. Ihr Gesicht verriet Charakterstärke, und ihre Augen waren klar. Sie musterte die drei Störenfriede, die in ihre kleine Welt eingedrungen waren.
Als sie den Wagen erreicht hatte, stemmte sie die Hände in die Hüften und begann, Fragen zu stellen. Billy versuchte, sie auf rotzige Rockabilly-Art abzuspeisen, aber schon bald schmolz sein Selbstbewusstsein dahin. Als die alte Frau das Verhör beendet hatte, drehte sie sich um und schlurfte über die steile Einfahrt zu ihrem Haus zurück. Billy blieb mitten auf der Straße stehen und starrte auf seine Schuhspitzen herunter.
»Was wollte die alte Dame?«, fragte Hollis. »Befinden wir uns auf ihrem Grundstück?«
»Sie ist die Itako. Sie sagt, sie habe dich erwartet.«
»Ja, klar.«
»Vielleicht ist es Unsinn, vielleicht auch nicht. Ich weiß nur, dass wir ins Haus kommen sollen.«
»Und dann?«
»Es ist so, wie du es dir gewünscht hast. Sie spricht mit den Toten.«
Die beiden betraten den Eingangsbereich des Hauses und zogen Schuhe und Jacken aus. Die Itako war verschwunden, aber
die Tür zum Wohnzimmer stand offen, wo ein alter Mann auf einem modernen Sofa saß und eine Karaoke-Show im Fernsehen verfolgte. Er neigte den Kopf leicht zur Seite, ohne in geringster Weise überrascht oder neugierig zu wirken, und zeigte nach links.
Billy ging durch den Korridor voraus. Er schob eine Papiertür beiseite und betrat einen Raum, dessen Fenster von Spitzenvorhängen bedeckt war. Auf den Tatami-Matten lagen ein paar Kissen, aber eigentlich war der Raum nur mit einem langen, niedrigen Holztisch eingerichtet, den man zum Altar umfunktioniert hatte. Darauf stand eine Sammlung von Katzenfiguren. Die kleineren Katzen waren aus Holz oder Jade geschnitzt, die meisten waren jedoch aus Porzellan und hatten aufgemalte Schnurrhaare. Alle Katzen hatten den Blick auf eine Schüssel mit drei verschrumpelten Orangen und ein Martiniglas mit glänzenden Kieseln ausgerichtet.
Hollis setzte sich auf eins der Kissen und fragte sich, was er jetzt tun sollte. Er war Tausende von Kilometern gereist, um an diesem Ort zu sein. Drei Männer waren umgekommen, die Tabula war ihm auf der Spur – und er saß hier im Haus
Weitere Kostenlose Bücher