Traveler - Roman
Rand einer der Betondeckel gesehen zu haben, mit denen die Raketensilos verschlossen waren. Vielleicht gab es ja eine Möglichkeit, aus diesem Keller ans Licht zu gelangen, doch der Teil der unterirdischen Anlage, in dem sich die Raketen befunden hatten, war der gefährlichste. Einmal hatte Gabriel eines der Raketensilos erkunden wollen. Er verirrte sich dabei jedoch in dunklen Seitengängen und wäre beinahe durch einen Spalt im Boden gefallen.
In der Nähe der leeren Treibstofftanks für den Stromgenerator entdeckte er eine zweiundvierzig Jahre alte Ausgabe der Arizona Republic , einer Tageszeitung aus Phoenix. Das Papier war vergilbt und brüchig, die Schrift aber noch lesbar. Gabriel saß stundenlang auf dem Klappbett und las Artikel, Kleinanzeigen und Hochzeitsankündigungen. Er tat so, als wäre er ein Besucher aus einer anderen Sphäre und diese Zeitung seine einzige Quelle für Informationen über die menschliche Rasse.
Das Gesellschaftssystem, das auf den Seiten abgebildet wurde, schien von Brutalität und Grausamkeit bestimmt zu sein. Aber es gab auch positive Ausnahmen. Gabriel freute sich besonders über einen Bericht, der anlässlich einer goldenen Hochzeit eines Paares aus Phoenix veröffentlicht worden war. Tom Zimmerman war von Beruf Elektriker gewesen, und sein Hobby waren Spielzeugeisenbahnen. Seine Frau Elisabeth, eine pensionierte Lehrerin, engagierte sich in einer Methodistengemeinde. Gabriel studierte das verblichene Foto der beiden Jubilare, auf dem sie Händchen haltend in die Kamera lächelten. Er hatte in Los Angeles etliche Affären gehabt, aber es kam ihm so vor, als lägen sie schon unendlich weit zurück. Das Foto der Zimmermans bewies, dass Liebe trotz des Wütens der Welt überdauern konnte.
Die alte Zeitung und die Gedanken an Maya waren seine einzigen Ablenkungen. Häufig traf er Sophia Briggs im Tunnel an. Vor einem Jahr hatte sie alle Schlangen im Raketensilo gezählt, und jetzt tat sie es erneut, um festzustellen, ob sich ihre Anzahl verändert hatte. Um zu gewährleisten, dass sie keine Schlange mehrmals zählte, besprühte sie jede, die sie entdecken konnte, mit unschädlicher Farbe. Gabriel gewöhnte sich an den Anblick von Königsnattern mit einem neonorangefarbenen Fleck an der Schwanzspitze.
Er marschierte im Traum einen langen Flur entlang, öffnete dann seine Augen und stellte fest, dass er auf dem Klappbett
lag. Nachdem er ein paar Schlucke Wasser getrunken und eine Hand voll Weizencracker gegessen hatte, verließ er den Schlafraum und entdeckte Sophia im Kontrollraum. Die Zoologin drehte sich zu ihm um und musterte ihn mit kritischem Blick. Gabriel kam sich in solchen Situationen immer wie ein Erstsemester in einem ihrer Seminare vor.
»Wie haben Sie geschlafen?«, fragte sie.
»Ganz gut.«
»Haben Sie das Essen gesehen, dass ich Ihnen gebracht habe?«
»Ja.«
Sophia bemerkte aus den Augenwinkeln eine Königsnatter, markierte deren Schwanz blitzschnell mit Farbe und drückte gleichzeitig auf den Knopf ihres Handzählers. »Und was tut sich bei den Wassertropfen? Haben Sie schon einen gespalten?«
»Noch nicht.«
»Vielleicht schaffen Sie es ja jetzt. Versuchen Sie’s.«
Und wieder stand er vor der Pfütze, starrte zur Decke empor und verfluchte sämtliche neunundneunzig Pfade. Die Wassertropfen waren zu klein, fielen zu schnell herunter. Die Schwertklinge war zu schmal. Es schien eine absolut unlösbare Aufgabe zu sein.
Zuerst hatte er sich auf das Geschehen an sich konzentriert, hatte den anschwellenden Tropfen fixiert, die Muskeln angespannt und das Schwert gehalten, als wäre er der Schlagmann eines Baseballteams. Leider fielen die Tropfen in vollkommen unregelmäßigen Abständen. Manchmal musste er zwanzig Minuten warten, manchmal nur zehn Sekunden. Gabriel schwang das Schwert und traf ins Leere. Er fluchte und versuchte es erneut. Es ergriff ihn ein so heftiger Zorn, dass er am liebsten aus der Abschussbasis geflohen und zu Fuß nach San Lucas marschiert wäre. Er hatte nichts mit den Prinzen aus der Geschichte seiner Mutter gemein, sondern war lediglich
ein Volltrottel, der sich von einer schrulligen alten Frau herumkommandieren ließ.
Gabriel erwartete, dass dieser Tag weitere Misserfolge bringen würde. Aber während er Stunde um Stunde mit dem Schwert dastand, vergaß er nach und nach sich selbst und seine Probleme. Obwohl seine Finger immer noch den Griff der Waffe umklammerten, hatte er nicht mehr den Eindruck, sie bewusst festzuhalten.
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