Traveler - Roman
den Haupttunnel in nördlicher Richtung entlang und betrat das Gewirr aus Gängen. Die Abschussbasis war so angelegt, dass die beim Zünden einer Rakete hervorschießenden Flammen abgeleitet wurden; deshalb versperrten ihm mehrfach Lüftungsschächte, die scheinbar ins Nichts führten, den Weg. Schließlich blieb er stehen und starrte die Lampe in seiner Hand an. Die Flamme flackerte alle paar Sekunden wie von einem leichten Windhauch erfasst. Er ging langsam in die Richtung, aus der dieser Luftzug zu kommen schien, der sich mehr und mehr in eine kalte Strömung verwandelte. Am Ende des Gangs angekommen, schob Gabriel sich zwischen einer schweren Stahltür und einem schiefen Türrahmen hindurch und stand auf einer Plattform, die aus der Wand des größten Raketensilos ragte.
Der Silo war eine gewaltige vertikale Röhre mit einer Betonummantelung. Die Regierung hatte schon vor Jahren die Waffen abtransportiert, die auf die Sowjetunion gerichtet gewesen waren, aber Gabriel sah knapp hundert Meter unter sich noch den schattenhaften Umriss der Abschussrampe. Eine Treppe verlief spiralförmig an der gesamten Silowand entlang. Und tatsächlich, durch einen Spalt oben in der Abdeckung fiel ein Strahl Sonnenlicht herein.
Ein Tropfen landete auf seinem Gesicht. Grundwasser drang durch die Risse im Beton. Die Lampe in der Hand, begann Gabriel die Treppe hinauf in Richtung des Lichts zu steigen. Bei jedem seiner Schritte zitterten die Stufen. Nach fünfzig Jahren Feuchtigkeit waren die Bolzen durchgerostet, mit denen man die Treppe an der Wand befestigt hatte.
Geh langsam, sagte er sich. Sei vorsichtig. Doch die Stufen begannen zu beben, als wären sie lebendig. Plötzlich sprang ein Bolzen aus der Wand und fiel hinab in die Dunkelheit. Gabriel blieb stehen und hörte, wie der Bolzen von der Rampe abprallte. Plötzlich riss eine ganze Reihe von Bolzen mit einem Geräusch wie eine Maschinengewehrsalve aus dem Beton, und die Stufen lösten sich langsam von der Wand.
Er ließ die Lampe los und klammerte sich mit beiden Händen am Geländer fest. Der obere Teil der Treppe kam ihm entgegen, ihr Gewicht zog weitere Bolzen heraus. Und dann fiel Gabriel mit der Treppe nach unten, prallte aber etwa fünf Meter unterhalb der Tür, durch die er gekommen war, wieder gegen die Wand. Das Geländer hing nur noch an einer einzigen Befestigung.
Einen Augenblick lang klammerte sich Gabriel angsterfüllt ans Geländer. Der Teil des Silos unter ihm kam ihm wie ein Schlund vor, der in die ewige Finsternis führte. Langsam hangelte er sich am Geländer hinauf, und auf einmal hörte er ein Dröhnen in den Ohren. Mit seiner rechten Körperhälfte stimmte etwas nicht. Sie schien gelähmt zu sein.
Während er sich weiterhin an das Geländer klammerte, bemerkte er, wie sich ein geisterhafter Arm, der aus lauter kleinen Lichtpunkten bestand, von seinem Körper trennte und sein richtiger Arm schlaff nach unten fiel. Er hielt sich mit der linken Hand fest, aber seine gesamte Aufmerksamkeit war von den Lichtern gefesselt.
»Durchhalten!«, rief Sophia. »Ich bin direkt über Ihnen!«
Durch die Stimme der Wegweiserin verschwand der zweite Arm. Gabriel sah sie nicht, doch dann wurde neben ihm ein Seil heruntergelassen und schlug gegen die Wand. Kurz nachdem er das Seil gepackt hatte, riss auch die letzte Befestigung heraus, und das Geländer flog an ihm vorbei und landete krachend unten auf der Rampe.
Gabriel zog sich zu der Plattform hinauf und lag dann, nach Atem ringend, eine Weile da. Sophia stand über ihm, ihre Lampe in der Hand.
»Alles in Ordnung?«
»Nein.«
»Ich war gerade draußen, da fiel plötzlich der Generator aus. Ich habe ihn wieder in Gang gebracht und bin sofort hergekommen.«
»Sie … Sie haben mich eingesperrt.«
»Stimmt. Sie haben nur noch einen Tag vor sich.«
Er stand auf und ging durch die Tür ins Innere der Basis. Sophia folgte ihm.
»Ich habe gesehen, was passiert ist.«
»Ja, natürlich. Ich wäre beinahe gestorben.«
»Das meine ich nicht. Ihr rechter Arm war ein paar Sekunden lang vollkommen schlaff. Ich konnte es nicht sehen, aber ich weiß, dass das Licht Ihren Körper verlassen hat.«
»Ich habe keine Ahnung, ob es Tag oder Nacht ist, ob ich wach bin oder träume.«
»Sie sind ein Traveler, genau wie Ihr Vater. Ist Ihnen das denn nicht klar?
»Vergessen Sie’s. Ich hab auf den ganzen Kram keine Lust mehr. Ich will ein normales Leben führen.«
Ohne ein Wort zu sagen, machte Sophia einen raschen
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