Traveler - Roman
Das Schwert war zu einem Bestandteil seines Geistes geworden.
Der Wassertropfen fiel wie in Zeitlupe. Als Gabriel das Schwert schwang, war er seinem eigenen Erleben ein Stück entrückt, und er beobachtete, wie die Klinge auf den Tropfen traf und ihn durchschnitt. In diesem Moment blieb die Zeit stehen, und er sah alles überdeutlich – das Schwert, seine Hände und die beiden Hälften des Wassertropfens, die im Begriff waren, in verschiedene Richtungen zu fliegen.
Dann schritt die Zeit wieder voran, und der Eindruck verschwand. Es waren nur ein paar Sekunden verstrichen, aber es schien Gabriel, als hätte er einen Blick auf die Ewigkeit geworfen. Er rannte den Tunnel entlang. »Sophia!«, rief er. »Sophia!« Seine Stimme hallte von den Betonwänden wider.
Sie war immer noch im Kontrollraum und schrieb gerade etwas in ihr ledernes Notizbuch. »Was gibt’s?«
Gabriel stammelte, so als wäre seine Zunge halb gelähmt. »Ich … ich hab eben einen Tropfen durchgeschnitten.«
»Gut. Sehr gut.« Sie klappte das Notizbuch zu. »Sie machen Fortschritte.«
»Da ist noch etwas, aber ich kann es kaum erklären. Als ich zuschlug, hatte ich das Gefühl, die Zeit würde langsamer vergehen.«
»Wirklich?«
Gabriel senkte den Blick. »Ich weiß, es klingt verrückt.«
»Niemand kann die Zeit anhalten«, sagte Sophia. »Aber man kann seine Sinne bis weit über das normale Maß hinaus
schärfen. Es mag sich dann so anfühlen, als würde sich alles verlangsamen. Aber das findet nur im eigenen Kopf statt. Die Wahrnehmungsfähigkeit ist beschleunigt. Große Sportler sind gelegentlich dazu in der Lage. Ein Ball wird durch die Luft geworfen oder geschlagen, und sie sehen die Flugbahn ganz genau. Manchmal hört ein Musiker jedes Instrument seines Orchesters einzeln. Es kann sogar normalen Menschen passieren, wenn sie meditieren oder beten.«
»Passiert auch Travelern so was?«
»Traveler sind einzigartig, weil sie lernen können, diese gesteigerte Wahrnehmungsfähigkeit bewusst herbeizuführen. Es verleiht ihnen die Gabe, die Welt mit ungeheurer Klarheit zu sehen.« Sophia musterte Gabriels Gesicht, so als suchte sie in seinen Augen nach einer Antwort. »Können Sie es? Können Sie im Geist auf einen Knopf drücken und dadurch das Gefühl erzeugen, als würde sich die Welt verlangsamen und für eine Weile innehalten?«
»Nein. Es ist einfach so passiert.«
Sie nickte. »Dann müssen wir weiterarbeiten.« Sophia nahm ihre Gaslampe und wollte offenbar hinausgehen. »Wir werden jetzt den siebzehnten Pfad ausprobieren, um etwas für Ihre Beweglichkeit und Ihr Balancegefühl zu tun. Wenn sich der Körper eines Travelers auf bestimmte Weise bewegt, hilft das dem Licht auszubrechen.«
Ein paar Minuten später standen sie auf einem Sims, der sich auf halber Höhe des zwanzig Meter hohen Silos befand, in dem früher die Funkantenne der Abschussbasis installiert gewesen war. Ein etwa sieben Zentimeter breiter Stahlträger verlief quer durch das Silo. Sophia hob ihre Lampe, um Gabriel zu zeigen, dass es bis zum Boden, auf dem ein Haufen ausrangierter Maschinen lag, zehn Meter hinunterging.
»Etwa auf halbem Weg nach drüben liegt ein Penny auf dem Stahlträger. Holen Sie ihn her.«
»Ich werde runterfallen und mir die Beine brechen.«
Sophia schien das keine Sorgen zu bereiten. »Stimmt, das könnte passieren. Aber die Wahrscheinlichkeit ist höher, dass Sie sich die Knöchel brechen. Sollten Sie allerdings auf dem Kopf landen, werden Sie wahrscheinlich sterben.« Sie senkte die Lampe und nickte. »Na los.«
Gabriel atmete tief ein und trat seitlich auf den Stahlträger, sodass sein Gewicht mitten auf seinen Fußsohlen ruhte. Vorsichtig schob er die Beine abwechselnd ein Stück vom Sims weg.
»Sie machen es verkehrt«, sagte Sophia. »Die Zehen müssen in die Richtung zeigen, in die Sie wollen.«
»So ist es aber sicherer.«
»Irrtum. Strecken Sie die Arme im rechten Winkel zum Stahlträger aus. Konzentrieren Sie sich auf Ihren Atem, nicht auf Ihre Angst.«
Gabriel drehte sich um, weil er etwas erwidern wollte, und verlor dabei die Balance. Er schwankte einen Moment vor und zurück, ging dann in die Hocke und hielt sich mit beiden Händen fest. Da er aber weiterhin hinunterzufallen drohte, setzte er sich schließlich rittlings auf den Stahlträger. Er brauchte zwei Minuten, bis er wieder auf dem Sims stand.
»Das war ja erbärmlich. Versuchen Sie’s noch mal.«
»Nein.«
»Wenn Sie ein Traveler werden
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