Traveler - Roman
Diese rasche Bewegung schien die entscheidende Veränderung zu bewirken. Er holte noch einmal tief Atem, und dann konnte Vicki die Transformation verfolgen. Sein Körper zitterte und erschlaffte völlig. Er erinnerte sie an einen steinernen Ritter auf einer Grababdeckung.
War Gabriel über ihr? Schwebte er durch das All? Sie sah sich nach einem Zeichen um, erblickte aber lediglich die wasserfleckigen Wände und die schmutzige Zimmerdecke. Wache über ihn, betete sie. Lieber Gott, beschütze diesen Traveler.
FÜNFZIG
G abriel war hinübergewechselt, sein Licht hatte die Grenzen überwunden. Als er die Augen öffnete, stellte er fest, dass er sich an einer Treppe im Obergeschoss eines alten Hauses aufhielt. Er war allein. Im Haus herrschte Stille. Schwaches gräuliches Licht sickerte durch ein schmales Fenster.
Auf dem Treppenflur stand ein altmodischer, schmaler Tisch an der Wand, auf dem sich eine Vase mit einer Seidenrose befand. Gabriel berührte die steifen, glatten Blütenblätter. Die Rose, die Vase und das Haus wirkten ebenso unecht wie die Gegenstände in seiner Welt. Nur das Licht war dauerhaft und real. Sein Körper und seine Kleidung waren ihm hierher gefolgte geisterhafte Abbilder. Gabriel zog das Jadeschwert ein paar Zentimeter aus der Scheide. Die stählerne Klinge strahlte eine silbrige Kraft aus.
Er schob die Spitzenvorhänge des Flurfensters zurück und spähte hinaus. Es war früher Abend, kurz nach Sonnenuntergang. Er sah Laubbäume und Bürgersteige und auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Häuserzeile im Stil der typischen Brownstones in New York oder Baltimore. Hinter einigen der Fenster brannte Licht; die Jalousien hatten eine mattgelbe Farbe wie altes Pergament.
Gabriel hängte das Schwert so über die Schulter, dass es seinen Rücken berührte. Leise schlich er die Treppe zum zweiten Stock hinunter. Er öffnete langsam eine Tür, rechnete damit, angegriffen zu werden, aber in dem Schlafzimmer, das er betrat, war niemand. Er erkannte schwere, dunkle Möbel – eine große Kommode mit Messingbeschlägen und ein Bett mit geschnitztem
Holzrahmen. Durch die altmodische Einrichtung wirkte das Zimmer wie eine Stummfilmkulisse. Es gab weder Radio noch Fernseher, nichts Modernes, Buntes, Glänzendes. Gabriel ging in den ersten Stock. Dort angekommen, hörte er Klaviermusik von unten. Ein langsames, trauriges Stück. Die Melodie war simpel und wurde mit leichten Variationen ständig wiederholt.
Gabriel versuchte, die letzte Treppe hinabzusteigen, ohne dass eine der Stufen knarrte. Im Erdgeschoss führte eine offene Tür in ein Esszimmer mit einem langen Tisch und sechs hochlehnigen Stühlen. Auf einem Sideboard stand eine Schale mit Wachsfrüchten. Gabriel durchquerte die Diele, ein Arbeitszimmer mit Ledersesseln und einer einzelnen Leselampe und betrat dann einen Salon auf der Rückseite des Hauses.
Eine grauhaarige Frau saß mit dem Rücken zur Tür an einem Klavier. Sie trug einen langen schwarzen Rock und eine lavendelblaue Bluse mit Puffärmeln. Als Gabriel sich der Frau näherte, knarrte der Fußboden, und sie blickte über die Schulter. Ihr Gesicht verblüffte ihn. Es war bleich und ausgemergelt, so als hätte man sie im Haus eingesperrt, damit sie verhungerte. Nur ihre Augen wirkten lebendig; sie leuchteten, als sie ihn anstarrten. Der Anblick des fremden Mannes schien sie zu überraschen, aber nicht zu ängstigen.
»Wer sind Sie?«, fragte die Frau. »Ich habe Sie hier noch nie gesehen.«
»Ich heiße Gabriel. Könnten Sie mir sagen, wo ich hier bin?«
Ihr Rock raschelte, als sie zu ihm herüberkam. »Sie sehen ungewöhnlich aus. Sie müssen neu sein.«
»Ja, das stimmt wohl.« Er wich zurück, aber sie folgte ihm. »Entschuldigen Sie bitte, dass ich hier eingedrungen bin.«
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen.« Mit einer raschen Bewegung griff die Frau nach seiner rechten Hand. Ein staunender Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht. »Ihre Haut
ist ja ganz warm. Wie ist das möglich?« Gabriel versuchte, die Hand wegzuziehen, aber die Frau hielt sie mit einer Kraft fest, die nicht zu ihrem zerbrechlich wirkenden Körper passte. Leicht zitternd beugte sie sich vor und küsste Gabriels Handrücken. Erst spürte er ihre kalten Lippen, dann einen scharfen Schmerz. Er entriss ihr die Hand und sah, dass sie blutete.
In einem der Mundwinkel der Frau haftete ein kleiner Tropfen Blut – sein Blut. Sie berührte es mit dem Zeigefinger, betrachtete dessen leuchtend rote
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