Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Treibgut - 11

Treibgut - 11

Titel: Treibgut - 11 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Witzko
Vom Netzwerk:
bin ich nach Port Corrad weiterverkauft worden.«
    Querinia warf einen zweifelnden Blick auf das bemalte Gesicht. Konnte das alles stimmen? Konnte er wirklich schon in so vielen Städten, deren Namen sie sich kaum merken konnte, gewesen sein? Sie hatte sich immer vorgestellt, daß nur große Krieger, noch größere als Zeradia, oder sehr alte Gelehrte soviel von der Welt gesehen haben könnten. Aber der da? Er sah nur alt aus, aber er war nicht einmal zehn Jahre älter als sie. Insgeheim erwartete sie, ihn plötzlich in lautes Lachen ausbrechen und zugeben zu sehen, daß er geschwindelt hatte. Doch sein Gesicht blieb ernst, vielleicht sagte er sogar die Wahrheit.
    »Dieses Neetha, sieht es aus wie Al’Anfa?« fragte sie.
    Liva dachte einen Augenblick lang nach, fast so, als habe er vergessen, wie es dort aussah, vielleicht auch so, als wolle er sich nicht gern daran erinnern.
    Zuerst erzählte er zögernd, dann flüssiger: »Es sieht völlig anders aus. Es gibt dort keinen dunklen Berg wie den Visra. Neetha ist ganz aus rosarotem Marmor erbaut mit Hunderten von Türmchen und geschwungenen kleinen Brücken über die vielen Arme des Flusses. Ich erinnere mich noch genau an das eine Mal, als ich Neetha vom Meer aus sah. Es war abends, und das Licht der sinkenden Praiosscheibe färbte die Stadt leuchtendrot, als würde sie brennen. Es war eine Stadt mit zahllosen Türmen, eingehüllt in eine nichtverzehrende Lohe, dahinter die Goldfelsen, die strahlten, als wären sie wirklich aus Gold.«
    Nach einer Pause sprach er weiter: »Die Goldfelsen sind ein hohes Gebirge, viele Meilen von der Stadt entfernt. Ich muß oft an diesen letzten Anblick denken.«
    Liva verstummte, schaute zu Boden und rieb sich ein wenig Staub von den Füßen. Einem plötzlichen Bedürfnis folgend, legte ihm Querinia tröstend eine Hand auf den Arm. Liva hob den Kopf, schaute ihr ins Gesicht. Kein bißchen Trauer lag in seinen Augen. Er wirkte eher wie jemand, der dieselbe Geschichte zum hundertsten Mal erzählt.
    »Es gibt dort einen Drachen im Gebirge, weißt du? Aber er kommt nie bis zur Stadt. Er ist uralt, und es heißt, man könne große Macht und Weisheit erlangen, wenn man mit ihm spricht. Jedenfalls wenn er einen vorher nicht frißt.« Dabei grinste Liva das Mädchen breit an.
    »Ich habe es allerdings nie selbst versucht, zumal ich damals sowieso noch ein kleiner Junge war. Dann gibt es noch die Bunte Mauer von Neetha. Sie ist dreihundert Schritt lang und vier Schritt hoch. Viele Kaiser sind darauf abgebildet und auch die Taten großer Helden und Heldinnen, wie zum Beispiel die der Heiligen Thalionmel … Aber das ist auch alles, was mir noch einfällt. Immerhin sind dreizehn Jahre verstrichen, seit ich aus Neetha wegging.«
    Mit einem schiefen Lächeln blickte er Querinia an, die über so viel Wunderbares erst einmal nachdenken mußte, und sagte: »Du hast hübsche Augen, weißt du das? Sie sind betörend wie Lotosblüten.«
    Dieser unerwartete Themenwechsel riß Querinia schlagartig aus ihren Träumen von rosafarbenen Brückchen, zarten Türmchen und goldschimmernden Gebirgen. Erstaunt gab sie zurück: »Und da hast du Schreiben gelernt?«
    »Was?«
    »In Neetha.«
    »Ja, auf der Praiosschule.«
    »Kannst du mir das beibringen?«
    »Sicherlich«, antwortete Liva so beiläufig, als wüßte er nicht, daß es in Al’Anfa streng verboten war, Sklaven derlei zu lehren. Rasch stand das Mädchen auf, verabschiedete sich und eilte davon. Es rauschte in ihren Ohren wie von einer Brandung. ›Es gibt dort einen Drachen‹ und ›Du hast Augen wie Lotosblüten‹, raunte die Gischt. Liva sah ihr nach, bis sie verschwunden war.
     
    Am nächsten Tag begann Livas Dienst als Hauslehrer. Man hatte einen Raum im Herrschaftsgebäude freigemacht, wo er in wachsbeschichtete Tafeln die Schriftzeichen einritzte, die Diago und seine Schwester nachzeichnen sollten. Livas Bemühungen stießen bei Diago auf genauso wenig Interesse wie schon zuvor die seiner Mutter, und statt Livas Buchstaben nachzuzeichnen, bemalte er seine Wachstafel lieber mit Bildern, Nachahmungen der Gemälde, die in dem langen Flur zum Eßzimmer hingen. Seine kleine Schwester hingegen war völlig damit ausgelastet, dieses groteske Wesen zu beobachten, das ein junger Mann war, aber hergerichtet war wie ein alter und das sich auch bisweilen wie ein Greis bewegte, zumindest, wenn ihre Mutter vorbeikam und mahnte: »Liva, wie sollst du dich bewegen?«
    Liva drehte sich weg von dem verwirrenden

Weitere Kostenlose Bücher