Treibgut - 11
Tod zu bringen. Scheïjian eilte die wenigen Stufen zum Eingang des Hauses hinauf, nickte im Vorbeigehen dreien seiner Bewohner zu, die schwatzend und Tee trinkend auf dicken Kissen beieinandersaßen und ein durchaus harmloses und friedliches Bild abgaben. Er öffnete eine dunkel lackierte Tür.
Das Wesen dahinter war ein uralter Mann, dessen Körper sich unter zahllosen Lagen von Gewändern und Decken verbarg, aus denen nur der Kopf herausragte, wenig mehr als ein hautbedeckter Schädel mit Augen, die auf den ersten Blick davon überzeugten, daß ihr dunkles Glühen aus tiefen Höhlen alles bündelte, was dieser Körper noch an Leben besaß. Scheïjian hatte sich oft gefragt, ob er mit seiner Angewohnheit aus Kindertagen, seinen Urgroßvater fälschlicherweise als ›Großvater‹ zu bezeichnen, so einzigartig dastand und ob der Zweite Finger wirklich der leibliche Großvater seiner Mutter war. Oder ob sie ihn möglicherweise genauso unrichtig ›Großvater‹ nannte wie ihr Sohn und vielleicht schon ihr Vater und dessen Mutter zuvor. Tatsächlich hätte es Scheïjian wenig erstaunt, wenn es in den Heiligen Rollen der Beni Rurech eine Passage folgenden Wortlauts gegeben hätte:
»In seinem siebzehnten Jahr trat ein uralter Greis vor Rurech. Er sprach: ›Großvater nennt man mich, Großvater wird man mich nennen, auch noch in vielen Jahrhunderten, wenn dein Volk das ferne Eiland von Marustan besiedelt haben wird.‹ So antwortete Rurech: ›Nimm Platz, Opa!‹«
Allerdings verschwand dieses verwandtschaftliche Gefühl regelmäßig, sobald Scheïjian in das Dämmerlicht des rotlackierten Raumes mit den zahllosen flackernden Kerzen und ihrem flüchtigen Widerschein auf Wänden und Möbeln getreten war. Dann gab es keinen Großvater mehr, sondern nur noch das grimmige Oberhaupt der mörderischen Bruderschaft.
»Du bist hier, obwohl ich nicht nach dir verlangt habe, also bringst du eine Botschaft oder eine Frage«, sagte der Greis mit einer Stimme, raschelnd wie altes Streu.
»Warum hast du mich nach Al’Anfa geschickt?« fragte Scheïjian.
»Weil für ihn bezahlt wurde«, knisterte und schabte die Antwort, »doch das war nicht deine Frage. Denen, die für den Alanfaner bezahlten, gefiel nicht, wie er um unsere Exilanten in Khunchom, Thalusa und anderswo herumscharwenzelte. Sie mochten die Versprechungen seiner Herrin nicht, ihre Worte, die von der Schwäche des Kaiserreichs, der Freundschaft Al’Anfas und einem neuen König von Maraskan sprachen. Es klang ihnen zu sehr nach dem Miauen einer Katze, die die Mäuse überreden will, für sie zu tanzen. Miaumiau, tanzt meine Mäuschen, tanzt!« Ein röchelndes Lachen kam von den eingetrockneten Lippen, eine fleckige Klauenhand schob sich unter den Stofflagen hervor und imitierte einen Tatzenschlag. »Abgesehen davon«, fuhr er fort, »möchten sie selbst einen König krönen, aber nicht von der Gnade der Rabenstadt.« Er öffnete den zahnlosen Mund zu einem schaurigen Grinsen. »Er kann nicht sonderlich schlau sein, dieser Möchtegernkönig, andernfalls hätte er bedacht, daß die alanfanische Katze wegen eines einzelnen das Mausen nicht einstellen wird.« Er wechselte das Thema: »Die Hohe Schwester des Tempels hat nach dir geschickt.«
Scheïjian meinte sich verhört zu haben: »Nicht Milhibethjida, die Kindliche? Niemals nähme sie die Dienste der Bruderschaft in Anspruch.«
»Doch, genau sie, Milhibethjida von Tuzak. Allerdings war nicht die Rede von Gold, und sie wollte auch keinen anderen als dich. Ein halber Mond ist seither vergangen.« Die brennenden Augen lauerten in ihren Höhlen auf eine Antwort, doch Scheïjian wußte nichts dazu zu sagen. Der Alte überging es. »Du warst zu Hause?« Sein Gegenüber bestätigte das. »Sprach sie von mir?«
Scheïjian wußte, wen er meinte, und antwortete: »Ich erzählte ihr, was kommen wird, darum fragte sie nach deinen Plänen.«
»Sie ist stur, sie bleibt, nicht wahr?«
»Ja.«
Der Alte lächelte in sich hinein und versank in Schweigen. Als Scheïjian sich sicher war, daß der Zweite Finger ihm nichts mehr zu sagen hatte, ging er. Er durchquerte gerade nochmals den Park, als eine helle Frauenstimme seinen Namen rief. Er blickte sich um und sah eine Frau von elegantem Äußeren in einem bauschigen dunkelroten Kleid auf sich zueilen. »Ihr wollt doch nicht schon wieder gehen, werter Freund?« näselte sie und bedachte Scheïjian mit einem herablassenden Blick.
Er starrte sie entgeistert an: »Was hast du mit
Weitere Kostenlose Bücher