Treibgut - 11
deinen herrlichen Locken angestellt, Alryscha?«
»O je!« hauchte die Angesprochene, zupfte in ihrem halblangen glatten Haar, als hätte sie die Veränderung erst jetzt bemerkt, wobei ihr Mienenspiel von Überraschung zu naiver Weibchenhaftigkeit wechselte. Betrübt, fast dem Weinen nahe, sah sie ihn an: »Was muß ich mich auch dort herumtreiben, wo die Mode Locken verbietet?« Aus ihrem spitzenbesetzten Ärmel zog sie ein parfümiertes Tüchlein hervor und hielt es sich vor die Nase. Über den Stoffrand hinweg knurrte sie: »Sieht aus, als hätte mir Boron aufs Haupt gekackt – und nicht nur der, sondern Efferd gleich mit, was?« Scheïjian brummte etwas, was man nach Belieben als ja oder nein auffassen konnte. Sie warf ihm einen raschen Blick zu und setzte das naive Gesicht wieder auf, unschuldig, auch ein wenig hilflos; es hatte schon manchen getäuscht. Vor Jahren hatte Scheïjian Alryscha heftig umworben, da ihn ihr heiteres Wesen ansprach. Allerdings auch die Form ihrer Beine, deren aufreizende Konturen von den Schenkeln bis zu den Knöcheln ihm als der fleischgewordene Beweis von Tsas Wirken erschienen war. Die Zeit seines Begehrens hatte auf dem Boden einer Scheune in Alrurdan geendet, wo beide die Ankunft eines Händlers und seiner Begleiter erwartet hatten und wo sie ihm ausführlich ihre Vorlieben beim Liebesspiel erklärt hatte. Er hatte daraufhin festgestellt, daß diese Vorlieben gewiß nicht die seinen waren und entschieden, es bei reiner Freundschaft zu belassen. Alryscha musterte ihn jetzt ernst: »Du scheinst in der Zwischenzeit mehr als ein paar Haare verloren zu haben. Sei vorsichtig, Bruder. Willst du reden?«
»Nur eine Frage von Recht und Unrecht«, entgegnete er.
Alryscha schnaubte wenig damenhaft: »Was ist Recht? Meinst du das Recht eines Bettlers, der ein Huhn stiehlt, das Recht dessen, dem es gehörte und der ihn ins Loch werfen läßt, das Recht des Tyrannen Herdins, in dessen Namen das Urteil gefällt wird, oder das Recht seines garethischen Kaisers, dessen Großvater ein ganzes Königreich stahl?«
So sehr er die Meuchlerin sonst schätzte, so wenig war Scheïjian danach, ihr in ihrer üblichen Leidenschaft zum Theoretisieren zu folgen, also sagte er nur: »Später vielleicht.« Er verabschiedete sich mit einem Kuß und ging. ›Dessen Großvater ein Reich stahl‹, hallte es in seinen Gedanken. Er seufzte. Die Welt schien derzeit wie besessen von Großvätern.
Es geht selten ruhig zu in den Tempeln der Zwillinge. Scheïjian hatte es dem entsetzten Raschid einmal so erklärt: »Im Gegensatz zu euch Zwölfgöttergläubigen fürchten wir die Zwölfgeschwister nicht, denn Rur hat ihnen befohlen, den Weltendiskus auf seinem Flug zu begleiten und ihn zu behüten, dazu gehören auch wir. Also betreten wir unsere Tempel nicht bangend und zitternd aus Angst vor göttlichem Zorn, sondern um die vollkommene Schönheit der Welt zu preisen, auch wenn es uns bisweilen unverständlich ist, warum die Geschwister so handeln, wie sie es tun. Nun, Rur hat ihnen seine Pläne erklärt und uns nicht. Allerdings ziehen unsere Priester auch nicht aus wie … Bannstrahlritter … um ihre kriecherische Furcht dadurch zu lindern, daß sie andere damit erfüllen.«
Scheïjian war damals sehr erleichtert gewesen, daß ihm statt der rondrianischen Templer gerade noch rechtzeitig die praktischen Bannstrahler eingefallen waren, die sein Freund bekanntermaßen nicht ausstehen konnte.
Heute war es besonders unruhig, da es sich ein nach vielen Jahren aus dem fernen Festum Heimgekehrter in den Kopf gesetzt hatte, hinauszuschmettern, wie glücklich er war, Tuzak noch einmal wiederzusehen. Aufrecht stand er in der Tempelhalle, und seine verzückte Stimme hallte hin und her zwischen den zwittrigen Alabasterstatuen der Zwillinge, polterte und dröhnte derart, daß Gläubige neugierig aus den Nebenhallen geströmt waren, um nach der Ursache des Geschreis zu forschen. Einige taten es dem Schreihals inzwischen gleich, versuchten gar, ihn im lautstarken Preisen zu übertrumpfen, und spornten ihn damit nur noch mehr an. So wurde an diesem Tag in einer so ohrenbetäubenden Lautstärke für die Gnade Rurs gedankt, wie sie der Tempel nie zuvor vernommen hatte.
Scheïjian ging zu einer Priesterin, die mit bebendem Körper eine Wand anstarrte. Sie drehte sich um und wischte sich eine Lachträne aus den tiefblauen Augen. »Die Hohe Schwester wünscht mich zu sprechen, und ich wünsche es auch«, erklärte er. »Folgt!«
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