Treibgut
Henning erkannte gerade so viel von dem darunter verborgenen Gesicht, wie nötig war, um zu wissen, dass es sich um Elena handelte.
Henning wurde von einer Welle der Erleichterung durchflutet. Als er sie sacht an der Schulter berührte, schnellte ihr Kopf abrupt in die Höhe und sie stieß einen spitzen Schrei aus. »Wie …? Was …, was ist los?« Es dauerte einen Moment, bis der Schlaf von ihr abfiel und sie realisierte, wer vor ihr stand.
Sie saß jetzt aufrecht. Bereit, jederzeit davon zulaufen. Vor der Erinnerung, vor ihrem Gegenüber, vor allem vor sich und ihrer vermeintlichen Schuld. Als hätte Henning ihre Gedanken erraten, beugte er sich zu ihr hinab und ergriff ihre Hand.
»Gott sei Dank hab ich Sie endlich gefunden!« Seine Stimme schwankte vor Erleichterung. »Alles in Ordnung?«
Sie nickte. Doch ihre Augen schienen eine andere Sprache zu sprechen. Es lag eine Frage darin, die Henning nicht beantworten konnte. Sie spürte das und biss sich auf die Lippen.
»Uns einen solchen Schreck einzujagen! Was haben Sie sich bloß dabei gedacht?« Er musterte sie besorgt. Die hereinbrechende Dämmerung verlieh ihrem Gesicht eine wächserne Blässe.
Statt einer Antwort entzog sie ihm ihre Hand, hob den Kopf und sah ihm direkt in die Augen. Dabei ließ sie ihn tief in ihre Traurigkeit schauen, auf einen Schmerz, der so groß war, dass er nicht auf den Grund sehen konnte, und so stark, dass er ihn fast überwältigte. Sie würde nie aufhören, sich schuldig zu fühlen für das, was an jenem Dezembertag geschehen war. Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, gab es nichts, was er sagen konnte, weil nichts sie trösten würde. Nichts, außer ihr Lea zurückzubringen. Mit einem Mal fühlte Henning sich zu Tode erschöpft. Als würde schon der bloße Gedanke daran seine Kräfte übersteigen. Bevor ihm seine Knie den Dienst zu versagen drohten, ließ er sich mit einem tiefen Seufzer auf einen mit Moos überzogenen Baumstumpf sinken. »Ich dachte, wir hätten eine Deal. Ihr Vertrauen gegen meins. Also, weshalb dieser Alleingang?«, erkundigte er sich mit leisem Tadel. »Hat es mit meinem Anruf zu tun gehabt? Damit, dass ich Ihnen von Dankos Spielsucht erzählt habe?«
Ein schwaches Nicken bestätigte seine Vermutung. »Das ist alles meine Schuld. Ich …«, schluchzte sie, »ich hätte ihm nicht blind vertrauen dürfen. Aber ich schwöre, ich habe nichts bemerkt. Danko, er …« Mit einem Mal begann sie zu weinen.
»Das verstehe ich nur allzu gut«, versuchte Henning sie zu trösten. »Sie waren damals in einer Ausnahmesituation.«
»Ach was«, wehrte Elena ab. »Ich meine, warum …«, sie hielt kurz inne, um die Nase hochzuziehen, »warum sagen Sie mir nicht einfach auf den Kopf zu, dass ich zu naiv gewesen bin. Dass ich nur das gesehen habe, was ich sehen wollte. Den Retter in der Not. Und der war er damals ja auch. Ich …« Den Blick starr auf ihre krampfhaft ineinander verschlungenen Hände gerichtet fügte sie mit zitternder Stimme hinzu: »Ich weiß bis heute nicht, was ich ohne seine Hilfe gemacht hätte.«
»Sie müssen sich deshalb doch nicht rechtfertigen«, wagte Henning einen erneuten Vorstoß.
»Trotzdem hätte ich es erst gar nicht so weit kommen lassen dürfen«, beharrte Elena auf ihrem Standpunkt. »Der Urlaub damals …, ich meine, glauben Sie etwa, das ist meine Idee gewesen?« Sie putzte sich die Nase. »Ich musste einfach noch mal hierher zurückkehren, um der Sache auf den Grund zu gehen und, auch wenn sich das jetzt dumm anhören mag, um endlich einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen. Nur kann ich das nicht, solange ich nicht weiß, was damals wirklich vorgefallen ist.«
»Sie meinen die Sache mit Dankos Spielsucht?«, hakte Henning nach.
»Auch das.« Sie nickte. »Ich wollte herausfinden, ob er mit Leas …«, sie zögerte kurz, »Verschwinden zu tun hatte.«
Sie erzählte, dass sie nach reichlicher Überlegung zu dem Entschluss gekommen war, noch einmal ganz von vorn zu beginnen. Dort, wo alles seinen Ausgang genommen hat: In der Pension von damals. »Die Wirtin – ich wollte noch mal mit ihr reden. Weil …, nun, es wäre doch möglich, dass sie etwas gesehen hat …« Sie sah ihn Verständnis heischend an.
»Gar keine schlechte Idee«, musste Henning, wenn auch widerwillig, zugeben. »Aber war dazu wirklich ein Alleingang nötig? Ich meine, warum haben Sie mich nicht angerufen oder Marlies von ihren Plänen unterrichtet?«, kam er ihren Erklärungsversuchen
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