Treibgut
sein ganzes Tun ohnehin vergeblich. Als würde alles nur schlimmer und immer schlimmer werden.
Als hätte dieser Gedanke eine von ihm nicht mehr kontrollierbare Maschinerie in Gang gesetzt, sah er aus den Tiefen seines Gedächtnisses das Gesicht seiner Mutter vor sich auftauchen. Er spürte, wie er zurückglitt, wie er hinabgezogen wurde, tiefer und tiefer, hinab in den Nebel seiner lange zurückliegenden Kindheit. Bilder eines kleinen, dunkelhaarigen Jungen blitzten in ihm auf. Verbunden mit kaum greifbaren Erinnerungsfetzen, vorbeihuschenden Schattengestalten gleich, die sich aus den Abgründen seines Bewusstseins in seinen Traum zu drängen suchten. Je länger er in diesem Zustand verharrte, desto mehr stieg in ihm herauf, und er wurde immer unsicherer, was davon der ersten, bewusst von ihm wahrgenommenen Erinnerung glich.
Kein Wunder, dachte er, als er langsam wach wurde, dass für die allermeisten Menschen die Anfänge ihres Lebens in völligem Dunkel lagen. Einer Studie zufolge konnten die frühesten Erinnerungen bis in den fünften Monat zurückreichen.
Wenn das stimmte, hatten Elena gerade einmal vier Monate zur Verfügung gestanden, um sich im Gedächtnis ihrer Tochter zu verankern. Man musste kein Prophet sein, um zu erkennen, dass diese Zeitspanne viel zu kurz war, um eine emotionale Bindung aufzubauen, die auch Jahren später noch Bestand haben konnte.
Was ihn wiederum zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen und damit zu der Frage zurückkommen ließ: Wie würde Lea reagieren, wenn sie sich plötzlich mit zwei Müttern konfrontiert sah? Was würde ein solches Ereignis in ihrer zarten Kinderseele bewirken? Gab es eine Möglichkeit, den Schaden zu begrenzen? Oder würde Lea das Ganze ein Leben lang wie eine Last mit sich herumtragen müssen. Eine Last, die sich schnell zu einem unkontrollierten Trauma entwickeln konnte. Zu einem wild wuchernden Geschwür, von dem niemand wusste, wie es sich entwickeln würde. Allein die Vorstellung lag Henning so schwer auf der Brust, dass er für einen Moment glaubte, nicht mehr atmen zu können. Alles nur ein böser Traum, versuchte er sich zu beruhigen. Doch das Entsetzen blieb. Genauso wie der salzige Geschmack auf seinen Lippen.
22
Am nächsten Morgen wurde Henning von munterem Vogelgezwitscher geweckt.
Noch ganz benommen tastete er sich durchs Zimmer und öffnete die hölzernen Fensterläden. Es war ein traumhafter Tag. Wie geschaffen, ihn zumindest für einen Augenblick all seine Sorgen und Probleme vergessen zu lassen. Die Sonne stand knapp über den Bergen, die sich am Horizont abzeichneten, und malte deren Formen in schwachem Lila an einen orangerot gestreiften Himmel.
In die vom Tau feuchte Luft mischte sich der Duft von frisch gebrühtem Kaffee und warmem Gebäck.
Henning wollte gerade ins Badezimmer gehen, als sein Handy klingelte. Es war Marlies, die ihm mitteilte, Elena sei spurlos verschwunden. Mit vor Besorgnis rauer Stimme sagte sie, die junge Frau sei ihr schon die ganzen letzten Tage seltsam vorgekommen.
»Niedergeschlagen und irgendwie …«, sie schien nach einem passenden Wort zu suchen, »abwesend. Als würde sie etwas beschäftigen.«
Noch während Henning ihr sorgenvoll lauschte, sagte ihm eine innere Stimme, dass sein Hinweis auf Dankos Spielsucht der Auslöser für ihr plötzliches Verschwinden gewesen sein könnte. Warum hatte er sie so schonungslos damit konfrontieren müssen? Hätte er sich nicht denken können, was eine solche Nachricht in ihrem Zustand bewirkten konnte?
Was, wenn sie sich etwas angetan hatte? Henning versuchte das ungute Gefühl abzuschütteln, das ihn bei diesem Gedanken befiel. Doch es blieb, verstärkte seine Schuld und ließ ihn das Schlimmste befürchten. Es war dieselbe Vorahnung, die er schon in seinem Traum verspürt hatte und die ihn nun zurück nach Hause trieb. Dabei war er sich durchaus darüber im Klaren, dass er weniger tun konnte, als ihm lieb war, solange es keinen Hinweis auf Elenas Verbleib gab. Doch eine innere Stimme mahnte ihn zur Eile. Noch bevor er aufgelegt hatte, stand sein Entschluss fest: Er würde heute zurückkehren.
Auch wenn er damit Leonas Pläne durchkreuzte. Am besten versuchte er gar nicht erst, sich ihr enttäuschtes Gesicht vorzustellen. Wusste er doch, mit welchen Erwartungen sie nach Italien aufgebrochen war. Florenz hatte sie ihm zeigen wollen und Siena.
Daraus würde nichts werden.
Schon wenig später fuhren sie die Straße zurück, die sie tags zuvor
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