Treibgut
hielt ihm Henning Dankos Bild unter die Nase. »Kommt Ihnen das Gesicht bekannt vor?«
Der junge Mann betrachtete das Foto flüchtig. Falls er ihn kannte, ließ er sich das nicht anmerken. Er hob nicht einmal die Augenbraue und mit einer Antwort schien er es auch nicht besonders eilig zu haben.
Henning beschloss, seiner Frage mit einem Geldschein Nachdruck zu verleihen. »Vielleicht erhöht das ja Ihr Denkvermögen?« Während der Schein seinen Besitzer wechselte, legte sich ihm von hinten eine Riesenpranke auf die Schulter.
»Zufälle gibt’s, die gibt’s gar nicht!«, brüllte eine Stimme in Hennings Ohr.
Erschrocken fuhr er herum. Sein Blick fiel auf militärisch kurzes Haar, einen runden Kopf, Stiernacken und breite Schultern. Was dem Mann an Größe fehlte, machte er durch Breite wieder wett. Er war gebaut wie ein Tanklaster und trug einen dunklen Anzug aus feinstem Zwirn. Mit allem hatte Henning gerechnet, nur damit nicht.
»Bist du das, Kalle?« In seiner Verblüffung bemerkte der Kommissar gar nicht, dass er ihn geduzt hatte. »Kalle Köster?« Henning hatte Kalle geholfen, seine infrage gestellte Ehre zurückzubekommen, als er vor Jahren mit dem Gesetz in Konflikt geraten war. Die Anklage lautete auf illegalen Drogenbesitz. Ein Vorwurf, der sich im Nachhinein als haltlos erwiesen hatte. Trotzdem war Kalle, der mit bürgerlichem Namen Karl-Heinz hieß, nur um Haaresbreite an einer Gefängnisstrafe vorbeigeschrammt. Und das allein, weil es Henning damals in allerletzter Minute gelungen war, einen Zeugen aufzutreiben, der die Anschuldigungen widerlegen konnte. Zwei Verbündete im Kampf gegen das Böse. Warum sollten sie sich da nicht duzen? So wie die Dinge jetzt standen.
»Da staunste, was?« Auch Kalle kam das Du so selbstverständlich über die Lippen, als wären sie seit Jahren miteinander befreundet.
Henning nickte wie zur Bestätigung mehrmals heftig mit dem Kopf und erkundigte sich, was Kalle hierher verschlagen habe.
»Das ist eine lange Geschichte«, erwiderte sein Gegenüber. »Um sie abzukürzen vielleicht so viel: Ich habe einen alten Freund getroffen. Wir haben vor Urzeiten zusammen die Schulbank gedrückt. Inzwischen betreibt er eine Reihe von Spielhallen. Als er hörte, dass ich Arbeit suche, riet er mir, es hier zu versuchen. Ich habe mich beworben – und sie haben mich genommen. Das war vor fünf Jahren. Mittlerweile bin ich Geschäftsführer.« Kalle schenkte ihm sein breitestes Lächeln. »Und du, was treibst du so? Das Leben noch frisch?« Er schien zu überlegen. »Hab dich ja schon seit Ewigkeiten nicht mehr zu Gesicht bekommen.«
Statt einer Antwort hielt Henning ihm Dankos Bild unter die Nase. »Sieht ganz danach aus, als ob ich diesmal derjenige wäre, der auf Hilfe angewiesen ist.«
Mit einem Anflug von Verwunderung nahm Kalle ihm die Fotografie aus der Hand. »Das Gesicht kommt mir bekannt vor«, sagte er mit gerunzelter Stirn. »Ist allerdings schon ne ganze Weile her, seit …« Er hielt kurz inne, um sich suchend umzusehen. »He, Ricco, komm doch mal her.«
Im nächsten Moment stand ein zwei Meter großer Hüne vor ihnen. »Was ‘n los?«
»Kennst du den Typ?«, erkundigte sich Kalle und hielt ihm die Fotografie unter die Nase, die sich in seinen riesigen Pranken klein ausnahm.
»Klar kenn ich den. Ist öfter mal hier gewesen. In unregelmäßigen Abständen.«
»Und? Ich meine, wissen Sie noch, wann Sie den Mann das letzte Mal gesehen haben?«, hakte Henning voller Ungeduld nach.
Der Hüne schien zu überlegen. »Vielleicht vor zwei, drei Jahren«, entgegnete er vage.
»War er in Begleitung?«
»Keine Ahnung. Ich kann mich nicht mal mehr an seinen Namen erinnern. Wie soll ich da noch wissen, mit wem der hier aufgekreuzt ist.« Er hielt kurz inne, um sich hinterm Ohr zu kratzen. »Aber ich kann mich ja mal umhören.« Und damit war er auch schon weg.
Während der blonde Riese mit Dankos Bild die Runde machte, zogen sich die beiden Männer in Kalles Büro zurück. Dorthin, wo sie sich bei einer Kanne Kaffee und einer Dose mit Buttergebäck ungestört unterhalten konnte. Ein Gespräch unter alten Bekannten, leicht und ohne Eile. Sie fingen im Kleinen an, bevor sie sich zu den großen Themen vorarbeiteten. Irgendwann kamen sie auf Elena Dierks zu sprechen. Zwischen zwei Tassen Kaffee erzählte Henning ihre Geschichte ziemlich gerade herunter, dröselte alles Stück für Stück auf, angefangen bei seinem Gespräch mit Marlies bis hin zu seiner Reise nach Italien.
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