Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Treibland

Treibland

Titel: Treibland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Till Raether
Vom Netzwerk:
musste er sich wirklich selber ein Bild machen. Und zwar durch die vermutlich beschlagende Scheibe eines Schutzanzugs, das Rasseln des Atemmotors in den Ohren.
    Als sie ihren Fahrradhelm aufsetzte und den Verschluss unter dem Kinn einrasten ließ, sah sie zum ersten Mal freundlich aus. «Tut mir leid», sagte sie. «Da müssen Sie morgen ein bisschen Zeit mitbringen. Ich interessiere mich immer eher für Details, mit dem Großen und Ganzen kann ich nicht so viel anfangen.»
    Danowski glotzte verständnislos. Sie schwang sich aufs Rad und rollte im Bogen an ihm vorbei. Bevor sie endgültig in die Pedale trat, sagte sie zu ihm: «Kann sein, dass ich da zu nah dran war. Aber Sie müssen aufpassen, dass Sie nicht zu weit weg sind.»
    Er blickte ihr hinterher. Irre, von wem man alles ungefragt Ratschläge bekam.

12 . Kapitel
    Kathrin Lorsch ließ ihn diesmal aufs Grundstück, ohne durch die Gegensprechanlage Fragen zu stellen. Sie erwartete ihn im Türrahmen und musterte ihn streng.
    «Gut, dass Sie kommen. Ich hätte Sie sowieso angerufen. Wo ist denn Ihr Kollege?» Sie war angezogen, als wollte sie das Haus verlassen, aber immer noch barfuß. Ihr Gesicht war klar, aber nicht frisch, eher verhangen, unscharf, als könnte man sie nicht genauer betrachten, selbst, wenn man wollte.
    «Sehr spätes Mittagessen», sagte Danowski.
    «Haben Sie ferngesehen? Stimmt das, was auf
Spiegel-online
steht?» Danowski hatte keine Ahnung. Er hob abwehrend die Hände und erklomm die kleine Treppe zur Tür.
    «Wie geht es Ihnen?», fragte er, als sie ihn vorbeigelassen hatte. Es war angenehm kühl im Haus.
    «Schlechter», sagte sie.
    Er nickte respektvoll. Zum Trösten war er nicht gekommen. «Weshalb wollten Sie mich anrufen?»
    Sie zögerte. «Lassen Sie uns in die Küche gehen. Das Wohnzimmer erinnert mich an heute Morgen. An diese Fotos, die mir Ihr Kollege gezeigt hat. Ich frage mich, ob ich meinen Mann nicht eigentlich gern noch einmal sehen würde.»
    Danowski schwieg, während er ihr folgte. Es widersprach seinem Naturell, aber er hatte sich angewöhnt, bei Zeugen und Verdächtigen, die viel redeten, einfach den Mund zu halten. Es war immer interessant, was die Leute von allein erzählten, egal, ob sie die Stille nicht aushielten oder sich vorher etwas zurechtgelegt hatten, das sie nun loswerden wollten.
    «Irgendwie habe ich die Vorstellung, jemand müsste ihn sauber gemacht haben, und er sieht jetzt ganz normal aus. Aber …» Sie brach ab. Als sie nicht fortfuhr, sagte Danowski: «Sie müssen ihn nicht noch mal sehen.»
    «Eigentlich habe ich keine Angst vor dem Tod», sagte sie. «Ich hab viel dazu gearbeitet. Aber das war dann offenbar doch immer sehr theoretisch, auch wenn ich gemeint habe, das tief zu empfinden. So was habe ich noch nie gesehen.»
    «Dazu gearbeitet?»
    «Der Tod war immer mein Thema, ein wichtiges Thema», sagte sie. «Aber vielleicht ist er das für alle Künstler. Mich haben immer die Grenzen interessiert und wie sie sich auflösen. Kennen Sie dieses Zitat von Luther?»
    Danowski runzelte die Stirn. Warum rülpset und furzet ihr nicht, hat es euch nicht geschmecket?
    «Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen», sagte sie. «Ich hab mir immer eingebildet, dass meine Arbeit das Gegenteil von Verdrängung ist. Dass ich den Tatsachen mutig ins Auge blicke: Der Tod ist ein Teil von allem, ohne Tod gibt es kein Leben und so weiter. Der Tod ist immer bei uns. Und mich haben immer Kulturen fasziniert, in denen diese Tatsache nicht verdrängt wird, in denen es keine Grenze gibt zwischen Toten und Lebenden.»
    Danowski dachte, dass er eigentlich nicht gerne Vorträge darüber gehalten bekam, mitten im Leben vom Tod umfangen zu sein; er musste nur seinen Arbeitsvertrag erfüllen, um genau das nicht verdrängen zu können.
    «Die Igbo in Westafrika sagen: Bei einer Beerdigung weint man für die Lebenden, nicht für die Toten. Weil die Lebenden die Toten nun nicht mehr sehen können. Das ist ihr einziger Verlust: die Sichtbarkeit. Ansonsten bleiben die Toten genauso bei ihnen im Dorf, in ihrer Hütte, auf ihrer Matte. Nur, dass man sie eben nicht mehr sehen kann, sobald ihr Körper beerdigt ist. Und wenn zu viele gestorben sind, dann ist das Dorf irgendwann zu voll, es ist kein Platz mehr. Und dann zieht der Stamm weiter und überlässt das Dorf den Toten.»
    Er wusste, dass auch die Toten Raum brauchten, dass sie nicht einfach weggingen. Er nickte, um sie zu ermuntern, weiterzureden. Aber es schien, als

Weitere Kostenlose Bücher