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Treibland

Treibland

Titel: Treibland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Till Raether
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war und dass er es sich nicht so genau merken würde, wenn noch was Interessantes gesagt wurde. Kathrin Lorsch nickte.
    «Das Seltsame ist, dass mir das erst heute Vormittag so richtig klargeworden ist, nachdem Sie wieder weg waren. Ich wollte mir etwas anschauen oder etwas in den Händen halten, was mich an ihn erinnert. Aber ich habe nichts gefunden. Wenn man so lange verheiratet ist, dann gewöhnt man sich daran, mit jemandem zusammenzuleben, der fast keine Spuren hinterlässt.»
    «Das heißt, Ihr Mann war ein vorsichtiger Mensch?»
    «Vorsichtig? Nein. Er war ein sehr bescheidener Mensch. So sind wir zusammengekommen. Er war der erste Mann, der mir zugehört hat, der erste, der nicht die ganze Zeit von sich selbst erzählt hat. Erst, nachdem ich selber irgendwann aufgehört habe zu reden, wurde mir klar, wie wenig er gesprochen hat.»
    «Weil er etwas zu verbergen hatte?»
    «Nein, er … Die Zunge vergisst mehr als das Ohr. Ein ugandisches Sprichwort. Er hat dem Reden nicht getraut. Oder sagen wir: Ich glaube, er mochte so eine gewisse Flüchtigkeit. Sie werden lachen, er hat auch ganz wenig Whisky getrunken. Im Grunde hat er immer nur daran gerochen. Ich glaube, dass ihn vor allem das Flüchtige daran fasziniert hat. Wenn Whisky gelagert wird, verflüchtigt sich im Laufe von fünf Jahren etwa ein Zehntel davon. Wissen Sie, wie man das nennt?»
    «Keine Ahnung», sagte Danowski. «Schwund ist immer?»
    «Nein, das nennen die Schotten den ‹angels’ share›, den Anteil der Engel. So was hat meinem Mann gefallen.»
    Sie schwiegen einen Moment.
    «Wir haben wirklich noch überhaupt keine Hinweise darauf, ob und um welche Art von Verbrechen es sich hier handeln könnte», sagte Danowski schließlich und stand auf. «Aber ich muss Sie dennoch fragen: Hatte Ihr Mann Feinde?»
    Sie musterte ihn fast ungläubig. «Soll das ein Witz sein? Fragen Sie so was wirklich?»
    Er hob die Schultern. «Offenbar.»
    «Glauben Sie, ich gebe Ihnen eine Liste von Leuten, die meinen Mann irgendwo auf der Nordsee mit einem seltenen Virus infiziert haben könnten?»
    «Das würde mir sehr weiterhelfen», sagte Danowski mit, wie er hoffte, hörbarer Selbstironie. Sie schüttelte den Kopf, während sie vor ihm zurück in die Diele ging.
    «Das war’s, oder?», fragte sie.
    «Ja», sagte er. Dann zeigte er mit dem Kinn auf die Tür zu ihrem Atelier. «Es sei denn, Sie würden mir noch den Nagelfetisch zeigen.»
    Sie runzelte die Stirn. «Woher wissen Sie, dass hinter dieser Tür mein Atelier ist?»
    Er blickte sie unbewegt an, damit sie in seinem Blick lesen konnte, was sie wollte: leichte Unverfrorenheit oder noch viel leichtere Scham. Es war in seinem Sinne, wenn sie glaubte, ihn durchschaut zu haben. Aber zugleich wusste er, dass er schwamm.
    «Gibt es irgendeinen Raum im Haus, den Sie sich nicht angeschaut haben? Waren Sie auch im Keller?»
    «Nein. Im Gegensatz zu Ihnen glaube ich nicht an Sprichwörter.»
    «Sprichwörter?»
    «Und Redewendungen. Leichen im Keller. Und so weiter.»
    Er spürte, dass sie kurz davor war, die Geduld mit ihm zu verlieren. Sie gab sich einen Ruck und öffnete die Tür zum Atelier. Das Doppelporträt der Kinder, das er heute Morgen noch gesehen hatte, war verhängt. Sie ging zielstrebig zu einer Gruppe ebenfalls verhängter Skulpturen, die an der gegenüberliegenden Wand standen. Von einer, die kleiner war, als er sich den Nagelfetisch vorgestellt hatte, zog sie das anthrazitfarbene Tuch. Im Grunde war es kein Wunder: Das Tuch verfing sich und blieb dran hängen, schließlich waren Nägel im Fetisch. Instinktiv trat Danowski einen Schritt vor, um sie daran zu hindern, fester am Stoff zu ziehen: Etwas an der Vorstellung, dass weicher Stoff an Nägeln und Metall hängenblieb, zwang einen, es verhindern zu wollen. Aber Kathrin Lorsch geriet in Wut über das Material, das sich ihr widersetzte. Sie riss am Tuch, vier- oder fünfmal, mit überraschend kraftvollen, runden Bewegungen, die ihren Körpergeruch in Danowskis Richtung wehten. Er konnte sie sich plötzlich in fast jeder nur denkbaren Situation vorstellen. Als sie fertig war, hing das Tuch in ihrer Hand in Fetzen, und es waren nur zwei oder drei Sekunden vergangen. Dann stand der Nagelfetisch nackt und bloß an der Zimmerwand. Eine tropfenförmige Brille war in Danowskis Richtung quer durchs Zimmer geschleudert worden.
    Kathrin Lorsch stellte sich neben ihn, und aus dem Augenwinkel sah Danowski, dass ihr Gesicht sich veränderte: Es wurde weicher,

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