Treibland
erinnerte sie sich erst durch diese Bewegung an seine Gegenwart. Sie verstummte und blickte ihn an.
«Aber diese Bilder, die ich heute Morgen gesehen habe … Da war plötzlich eine ganz deutliche Grenze zwischen Leben und Tod. Etwas so Totes wie meinen Mann auf diesen Fotos habe ich noch nie gesehen. Und auch dieses Bild will nicht verschwinden. Sobald meine Aufmerksamkeit nachlässt, sehe ich meinen Mann am Rande meines Blickfelds. Er steht oder sitzt in seiner gewohnten Körperhaltung. Aber er ist nackt und sieht genauso aus wie auf diesen Bildern.»
Die Küche war groß und hatte eine Glasfront zum Garten. Sie setzten sich an einen kleinen Tisch, der direkt am Fenster stand und an den genau zwei Stühle passten. Zu spät merkte Danowski, dass er einen Fehler gemacht hatte. Die Art, wie sie jetzt saßen, war zu nah und zu intim, wie ein Ehepaar morgens beim Frühstück, aus Gewohnheit oder Zuneigung bereit, dem Tag im weitesten Sinne gemeinsam entgegenzutreten. Das Einzige, was das Bild störte, war der Whisky, den Kathrin Lorsch sich gezielt und unzeremoniell eingegossen hatte, mit einem nachlässig entschuldigenden Blick in seine Richtung. Er schüttelte den Kopf, als sei ihm etwas angeboten worden. Sie trank zwei Fingerbreit, als wäre es heute nicht der erste. Danowski roch den Whisky in ihrem Atem, sobald sie in seine Richtung sprach: Torf, Feuerholz, Pinienzapfen, Seetang. Kaltes Meerwasser, Wollpullover, Heimweh nach einer großen Liebe, die man nie gekannt hatte.
«Raasay», sagte sie. «Vierzig Jahre alt. Sehr selten. Kostbar. Mein Mann hätte Ihnen mehr darüber erzählen können. Darüber kam er ins Reden. Dieser Whisky war nur für die besten Geschäftskontakte. Aber als solchen kann man Sie wohl trotz der beruflichen Natur unseres Kontakts kaum bezeichnen.» Dann schob sie das Glas und die Flasche beiseite, als hätte sie sich nie dafür interessiert, und sah ihn mit melancholischer Erwartung an. Danowski fing an, auf seinem Stahlrohrstuhl zu kippeln, um etwas weiter von ihr wegzukommen. Sie lehnte sich vor, um ihn besser zu verstehen. In einem nüchternen Tonfall, der nicht recht zu seinem schülerhaften Mobiliarmissbrauch passte, erzählte er ihr von dem seltenen Virus und dass es Spuren gab, die auf eine vorsätzliche Infektion und vielleicht sogar eine Fremdeinwirkung hindeuteten. Er erklärte den Status seiner Ermittlungen mit allen Komplikationen, von der prinzipiellen Unzuständigkeit der Hamburger Staatsanwaltschaft bis hin zu potenziellen Kollegen aus Panama. Während er sprach, merkte er, dass er sich von einer bürokratischen Formulierung zur nächsten hangelte, weil er mit seinen Gedanken woanders war. Bei etwas, das ihn am Haus der Lorschs störte. Schließlich verlor er den Faden und hielt inne. Er sah, wie sie nachdenklich ihre nackten Füße aneinanderrieb, weil der Küchenfußboden eigentlich zu kalt für sie war.
«Warum haben Sie mein Notizbuch angeschaut?», fragte sie unvermittelt in sein Schweigen. Danowski zögerte einen Moment zu lange; leugnen musste man sofort.
«Bitte streiten Sie es nicht ab, das würde mir nicht gefallen. Mein Mann hat früher manchmal in meinen Notizbüchern gelesen, das habe ich immer gehasst. Daraufhin habe ich angefangen, ihren genauen Ort zu markieren, um überprüfen zu können, ob er sich an meine Bitte hält, es nicht mehr zu tun.»
«Klingt nach einer guten Ehe», sagte Danowski in einem missglückten Tonfall, weswegen er sich endgültig wie ein unangemessen arroganter Schüler vorkam. Sie nickte zustimmend.
«Ihr Sarkasmus ist angekommen. Darüber, wie gut diese Ehe war, können wir reden. Aber bitte antworten Sie mir zuerst. Ich möchte mich sonst, glaube ich, nicht weiter unterhalten.»
Er räusperte sich. «Ich habe mich im Zimmer geirrt, also, ich habe mich sozusagen verlaufen, und …» Sie schüttelte den Kopf. Er nickte und fing noch einmal von vorne an. Heute hatte er nur mit harten Brocken zu tun, und er wollte sich nicht ausmalen, wie es morgen auf dem Schiff weitergehen würde.
«Okay», sagte er. «Ich hatte Kopfschmerzen und war auf der Suche nach Tabletten. Es schien mir in diesem Moment eher unpassend, Sie danach zu fragen. Und ganz ehrlich: Wenn ich irgendwo ein Notizbuch liegen sehe, kann ich nicht widerstehen. Es kommt selten genug vor. Meist gucke ich unauffällig mit einem Auge auf Computerbildschirme, während ich mit Leuten rede.» Er schielte ein wenig, um ihr seine Technik zu verdeutlichen. Sie verzog keine
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