Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Treibland

Treibland

Titel: Treibland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Till Raether
Vom Netzwerk:
nicht gefragt, welche Bewegungen im Schutzanzug möglich waren und welche nicht. Er hatte das Gefühl, einen Moment zu brauchen, um den Gedanken an diese Art Tatwaffe endgültig einzuordnen. Er lehnte sich an die Wand, die ihm dünn erschien, und blickte auf den verwischten Fleck auf dem Teppich. Etwas an der Vorstellung einer mit kontaminiertem Blut gefüllten Ampulle widerte ihn so grundsätzlich an, dass er anfing, im Kopf eine Liste zu machen, um das Gefühl unter Kontrolle zu bekommen.
    Wenn er ein Tötungsdelikt bearbeitete, dann war die Tatwaffe meist der sprichwörtliche stumpfe Gegenstand. Bratpfanne, Bügeleisen, Wagenheber. Viel öfter aber der Hammer. Gift? Viel seltener, als er bei Berufsanfang gedacht hatte. Weil die wenigsten sich so lange Zeit für die Planung ließen. Mit Tötungsdelikten war es wie mit Süßigkeitenverzehr und ungeschütztem Geschlechtsverkehr: Menschen mit geringer Impulskontrolle waren in überdurchschnittlichem Maße an diesen Praktiken interessiert und beteiligt, und weil sie nicht dazu neigten, lange im Voraus zu planen, war Gift eine seltene Tatwaffe.
    Oder Gift wurde einfach zu selten entdeckt.
    Und war ein tödliches Virus im engeren Sinne überhaupt Gift? Danowski dachte an die entsprechende Definition aus der Ausbildung und kam zu dem Ergebnis: Doch. Einmal, als er in Wilmersdorf Streife gelaufen war, hatte ein Junkie ihn und eine Kollegin im Preußenpark mit einer Spritze angegriffen, in der angeblich HIV -verseuchtes Blut war. «Angeblich»: Der Junkie hatte seine Angaben gemacht, indem er auf sie zugestürmt und «Ich stech euch ab, ihr Wichser, ich stech euch ab mit meinem Aids-Blut» gebrüllt hatte. Die Kollegin hatte ihn zu Fall gebracht und überwältigt, aber erst, nachdem er Danowski mit der Ampulle am Oberschenkel getroffen hatte. Danowski erinnerte sich an die Betretenheit der Kollegen, das Anlegen eines antiseptischen Wirkstoffdepots, Postexpositionsprophylaxe und die ganze andere Scheiße, der erste Test und dann der zweite. Expositionsrisiko in Relation zum mittleren Risiko 6 : 1 , das würde er nie vergessen.
    Eine Ampulle mit Blut war jedenfalls nicht seine Lieblingsmordwaffe.
    «Okay», sagte er, mehr zu sich selbst, weil er sich an die radioartige Verfremdung seiner eigenen Stimme durch die Lautsprecher gewöhnt hatte, «diese Glassplitter, die Sie fotografiert und dann mitgenommen haben: Lagen die hier offen rum, oder hat die jemand beim Saubermachen übersehen?»
    «Eher übersehen», erklärte Schelzig. «Sie waren unterm Bett, unter dem breiten Bügel da hinten. Und es waren auch nur ein paar Splitter, längst nicht die komplette Ampulle, das war nur ein Bruchteil, der Rest fehlte.»
    «Also hat jemand Carsten Lorsch mit einer Giftspritze angegriffen, und Lorsch hat sich gewehrt, wobei die Spritze oder Ampulle zerbrochen ist. Vielleicht hat der Täter Lorsch auch im Schlaf vergiften wollen, und Lorsch ist aufgewacht und hat sich dann erst gewehrt.»
    «Soll ich das irgendwie aufschreiben und für Sie in Form bringen oder so was?», fragte Schelzig.
    «Ich hab Sie nicht gebeten, hier rumzustehen und mir zuzuhören», sagte Danowski, der sich in Wahrheit nicht vorstellen wollte, allein durch die kontaminierte Zone zu schleichen. Je länger er hier war, desto mehr hatte er das Gefühl, nicht mehr gut atmen zu können. Er schloss die Augen und schien vornüberzustürzen, obwohl er die Wand überdeutlich an seinem Rücken spürte. Ein Abgrund voller scharfkantiger Gegenstände, Metallsplitter, wie Kathrin Lorsch sie in ihren Nagelfetisch geschlagen hatte. Kanülen.
    Plötzlich spürte er ein Gewicht auf seiner Schulter: ein Handschuh, darin nach allen Gesetzen der Logik die Hand der Frau vom Tropeninstitut, sehen konnte er sie allerdings nicht. Sie zog ihn nach vorne.
    «Bitte lehnen Sie sich nicht mit dem Rücken irgendwo an. Dadurch klemmen Sie Ihre Luftleitung ab. Sie waren gerade kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren. Bei einem Sturz könnten Sie den Anzug beschädigen.»
    Er atmete vorsichtig, dann voller Begeisterung, mehr als Luft, wie ihm schien: ein Gas aus Zuversicht und Hoffnung. Sauerstoff, herrliche Sache, dachte er. Dann, um sich zu bewegen und damit Schelzig sein Gesicht nicht sah, drehte er sich weg und öffnete die Schränke. Eine Reisetasche mit Schmutzwäsche, schwer zu durchsuchen mit seinen klobigen, gefühllosen Händen im schummerigen Schranklicht. Auf den Bügeln zwei hellblaue, ein weißes und ein hellblau-weiß gestreiftes

Weitere Kostenlose Bücher