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Treibland

Treibland

Titel: Treibland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Till Raether
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Blicke von Männern an sich abperlen zu lassen. Liebst du mich? Vertraust du mir? Ist es dir ernst? Solche Fragen hatten sie anfangs genauso nervös gemacht wie der forschende Blick ihres Bewachers, aber wenn man im Laufe der Jahre genug davon gehört hatte, gewöhnte man sich daran und konnte sich antrainieren, völlig ungerührt darauf zu reagieren. Einen Moment dachte sie an Carstens Blick und Carstens Augen, an den letzten Wimpernschlag, den sie von ihm gesehen hatte, aber diese Vision zog an ihr vorüber wie ein weit entfernter Einödhof an einem ICE -Fenster.
    «Okay, zwei Minuten», sagte er und nahm sie am Arm. Sanft, als wäre sie kostbar. Dabei ahnte sie, dass nur die Schaulustigen und Journalisten am Kai und auf dem Wasser ihre Bewacher daran hinderten, sie einfach über Bord zu werfen. Und dass sie sie nachts noch nicht mit einem Kissen erstickt oder sie mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen und in irgendeinen Lagerraum geworfen hatten, lag vermutlich nur daran, dass sich in allen Winkeln des Schiffes Menschen versteckten, die Angst vor dem Virus hatten.
    Ihr Bewacher führte sie in einen Lastenaufzug am Ende des Ganges, dort, wo der Treppenschacht der Besatzung parallel versteckt zu den Treppen für die Passagiere verlief. Während der ersten Tage der Reise, vor der Krise, war ihr nie aufgefallen, dass die Männer und Frauen von der Crew ständig hinter Türen verschwanden, die von den mit Teppichen ausgelegten und warm beleuchteten Wegen der Passagiere aus kaum zu sehen waren. Und dass dahinter eine zweckmäßige, nüchterne und farblose Welt mit Metallgeländern, Linoleumfußböden und Resopaltischplatten wartete, wusste sie erst, seitdem man sie mit sanftem Nachdruck gezwungen hatte, ein fremder Teil dieser Welt zu werden, wie ein transplantiertes Organ, das jederzeit wieder abgestoßen werden konnte.
    Als sie auf dem Oberdeck ankamen, führte er sie am Arm ins Freie. Er hielt sie fest im Schatten des Schornsteins, wo keine anderen Passagiere in der Nähe waren. Weil man hier keine Sonne hatte und nicht nah genug an der Reling war, um sehen zu können, was sich auf dem Kai abspielte. Seitdem sie Carstens zerstörten Körper abgeholt hatten, war dort unten nicht mehr viel passiert, aber sie konnte den Impuls verstehen: besser zuschauen, wie nichts passierte, als womöglich ein Ereignis zu verpassen, das vielleicht eine Veränderung der gleichförmigen Situation an Bord bedeutete.
    Dem gleichen Impuls folgend, löste sie sich überraschend leicht aus seinem Griff. Vielleicht hatte er sie instinktiv losgelassen, weil sie das Telefon am Ohr hatte und er im Grunde seines Herzens diskret war. Sie hatte die Nummer ihres Sohnes gewählt und wartete darauf, dass das Gespräch aufgebaut wurde. Sie spürte, wie er seine Hand von hinten auf ihre Schulter legte, um sie in den Schatten zurückzuziehen. Ohne darüber nachzudenken, stemmte sie sich seiner Bewegung entgegen, sanft zuerst, dann stärker.
    Die Mailbox von Luis, und während er seinen Namen sagte, wusste sie nicht, was sie sagen sollte.
    Unten auf dem Kai ging der schmale Polizist von voriger Woche über das Asphaltstück zwischen Terminal und Gangway. Er trug ein helles Paket unter dem Arm, darin war wohl der Schutzanzug, den alle Besucher an Bord tragen mussten, um die Quarantänevorschriften zu erfüllen. Nicht dass es besonders viele Besucher gegeben hätte. Unregelmäßige Lebensmittellieferungen, einmal zwei Journalisten, denen die Reederei offenbar zeigen wollte, dass die Situation an Bord unter Kontrolle und menschenwürdig war. Ärzte, die stichprobenartige Untersuchungen machten. Etwas aber unterschied den Polizisten von ihnen allen: Sie ahnte, dass er nur ihretwegen an Bord ging. Er hatte den Kopf gesenkt, als befürchtete er, die Schwelle zur Gangway zu verpassen, wenn er nicht ganz genau hinsah. Er trug ein helles Hemd, das ihm unter dem unmodischen braunen oder grauen Jackett aus der Hose hing, vermutlich, weil er im Auto gesessen hatte. Bevor er unter dem Baldachin der Gangway verschwand, hob er den Kopf zum Schiff. Er war dreißig, vierzig Meter von ihr entfernt, aber ihre Blicke trafen sich. Sie konnte seine Augen nicht erkennen, aber sie sah auf die Entfernung, dass etwas in seinem Gesicht sich veränderte, während er innehielt und stehen blieb. Er hob die Hand vor die Stirn, um seine Augen vor der dumpfen Sonne zu schützen. Als wollte sie ihn spiegeln, hob sie ihrerseits die Hand, um ihm zu winken, aber ihre linke Hand erreichte

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