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Treibland

Treibland

Titel: Treibland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Till Raether
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erst gerade eben. Ein Vorgang und ein Anblick, der selbst auf der Reeperbahn und in ihren Seitenstraßen nicht zum Standardprogramm gehörte.
    Die Frau hatte den rechten Arm ein wenig ausgestreckt, als erwartete sie, jeden Augenblick einen stützenden Laternenpfahl zu benötigen oder sich gegen etwas wehren zu müssen, was ihr entgegenkommen könnte.
    In der linken Hand trug die Frau eine alarmierende Plastiktüte.
    Menschen führten Plastiktüten aus den unterschiedlichsten Gründen mit sich, aber wenn Plastiktüten dem Transport dienten, dann immer dem von festen Gegenständen. Etwas an der Plastiktüte der Frau und daran, wie sie sie in der linken Hand trug, mit Resten von Vorsicht, bemüht, sie von ihrem Bein fortzuhalten – etwas daran signalisierte einem jedoch auf den allerersten Blick, dass die taumelnde Frau in ihrer Plastiktüte eine Flüssigkeit transportierte. Eine Flüssigkeit, deren Aggregatzustand eher in Richtung pürierte Suppe ging: flüssig, aber gehaltvoll.
    Es war eine rot-goldene Edeka-Tüte, die ihr eine ältere Dame in der S-Bahn gereicht hatte, bevor sie sich von der blonden Frau mit dem Pferdeschwanz weggesetzt hatte. Bis dahin hatte man bereits an den Schultern der Frau und daran, wie sie sich ziellos hoben und senkten, gesehen, dass sie kurz davor war, sich zu übergeben.
    Das, was sie nun in der Tüte trug, bezeichnete man medizinisch als
vomito negro
, als «schwarzes Erbrochenes»: Hämorrhagie, also Blutausfluss, in den sich Gewebefetzen gemischt hatten. Dies lag, wie sich wenig später herausstellen sollte, daran, dass im Körper der Frau mit dem blonden Pferdeschwanz etwas grundsätzlich schiefgegangen war: Sie war von einer Art Lebensform besessen, deren einziges Ziel es war, den Körper der Frau in sich selbst zu verwandeln. Allerdings unterlag die Lebensform dabei gewissermaßen einem Denkfehler: indem sie versuchte, den Körper der Frau in sich selbst zu verwandeln und sich zu diesem Zwecke «extrem amplifizierte», wie die Fachleute später sagten, also hemmungslos vermehrte, verwandelte sie den Körper der Frau von innen heraus in eine Art wandelnden Kadaver.
    Tatsächlich sagte einer der jungen Männer, die aus einem Club oder Puff kamen und jetzt auf dem Weg zum Eckladen mit dänischen Hotdogs waren, zu seinem Begleiter, als die Frau mit dem Pferdeschwanz und der Plastiktüte an ihnen vorbeitaumelte: «Alter, hast du die Zombiebraut gesehen?»
    Im Gegensatz dazu war die Frau allen, die sie kannten, immer als besonders lebendig und schnell im Kopf vorgekommen; ein bisschen «intensiv» vielleicht, die höfliche Umschreibung für «nervig», ein bisschen distanzlos, laut, aber das waren vielleicht einfach die nicht allzu schattigen anderen Seiten ihrer Lebenslust und Spontaneität.
    In den letzten zwölf Stunden jedoch hatte sich ihre Persönlichkeit verändert. Nicht, dass jemand dies bemerkt hätte, denn sie war allein gewesen. Aber sie selbst hatte gespürt, wie ihr etwas entglitten war, und erst, als es schon zu spät war, hatte sie festgestellt, dass sie selbst das war, was sie verloren hatte. «Das bin ja ich», war einer ihrer letzten Gedanken, bevor ihr Reptiliengehirn übernahm und in Zusammenarbeit mit letzten Resten ihrer Gewohnheiten und mit ihrem Muskelgedächtnis Dinge tat wie Mantelanziehen und Aufbrechen. Einen Moment hatte sie sich im Flurspiegel gesehen, aber nicht mehr wahrgenommen, was sie aus der Fachliteratur wusste, die sie wenige Tage zuvor noch studiert hatte: Ihr Gesicht hatte alle Anzeichen von Lebendigkeit verloren, die Augen standen ihr starr in den Höhlen, hellrot, und ihre Gesichtshaut wurde langsam gelb, mit hellen, sternförmigen Flecken.
    Die Frau schien in sich zusammenzusacken, soweit dies im Stehen möglich war. Zwei Grünphasen stand sie dort an der Ampel. Die Prostituierten vor dem Burger King beobachteten sie und hofften, dass sie bald verschwände, denn in ihrer Gegenwart würde niemand gerne stehen bleiben.
    «Grüner wird’s nicht!», rief eine von ihnen. Die Frau drehte sich langsam nach dem vertrauten Geräusch der menschlichen Stimme um. Wenn die Nutten sie schon vor zwei oder drei Stunden gesehen hätten, wäre ihnen jetzt aufgefallen, dass das Gesicht der Frau nachgedunkelt war und dass ihr Antlitz langsam nach unten zu rutschen schien, als löse ihr Bindegewebe sich auf. Was exakt der Fall war. Die Frau nickte, behutsam fast, als versuchte sie, etwas abzuschütteln. Dann setzte sie sich mühsam in Bewegung. Die Ampel wurde

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