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Treibland

Treibland

Titel: Treibland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Till Raether
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wieder von Bord ging zu Finzi.
    Er schloss die Augen und erlaubte sich, wegzudriften. Der Wind spielte auf seinem Gesicht. Die Geräusche von Möwen bogen sich zwischen seinen Ohren. Kühle zog ihm unter den Schutzanzug, als hätte der lange Winter noch Zugriff aus einem Jenseits der Jahreszeiten. Er merkte, wie er einschlief und dachte: Endlich. Endlich.
    Dann schreckte er hoch. Er hörte Stimmen, eine Familie vielleicht. Durchsagen, es gab Essen.
    Er stand auf und ging zum Fahrstuhl, der ihn zur Rezeption zurückbringen sollte. Etwas hatte sich verändert, aber er wusste nicht, was es war. Er sah auf seine Hand und war erleichtert, dass die Quittung für seine Dienstwaffe noch darin war, auch wenn er das dünne Papier nicht durch das Material seiner Schutzhandschuhe spürte. In der Vollverspiegelung des altmodisch eleganten Fahrstuhls sah er in seinem Schutzanzug aus wie jemand aus dem mittleren Management auf Besuch in der Produktionshalle für Tiefkühlpizzen. Erst im Rausgehen, als er das Deck erreicht hatte, auf dem die Rezeption und der Ausgang lagen, sah er im Spiegel, dass in seinem Anzug von der Hüfte bis zum Fuß ein Riss klaffte.
    Er erlaubte sich dazu nicht den Luxus irgendwelcher Gedanken. Manchmal schlossen Schutzanzüge sich von selber wieder, wenn man so tat, als wären sie intakt. Oder?
    Als er den Kontrollpunkt an der Rezeption erreichte, schien ihm, als hätten sie ihn erwartet. Langsam, aber zielstrebig untersuchten sie seinen Schutzanzug. Es war der gleiche Offizier, der ihn vor einigen Tagen nicht hatte an Bord lassen wollen, der ihm nun gedolmetscht von der gleichen Animateurin mitteilte, dass er das Schiff nicht mehr verlassen durfte.
    Beschädigter Schutzanzug.
    Verletzung der Quarantänebestimmungen.
    Kontamination.
    Hinter der Absperrung das durchaus noch mitfühlende Gesicht des Bundespolizisten, der dann zwar auch in sein Walkie-Talkie sprach, aber hauptsächlich mit den Achseln zuckte und sich abwandte.
    «Ich möchte den Kapitän sprechen», sagte Danowski, um Festigkeit bemüht. Alles ein Missverständnis, das sich aufklären ließ, von Kapitän zu Hauptkommissar.
    «Captain is busy», sagte der Offizier an der Dolmetscherin vorbei. «Very busy.» Womit sein Englisch erschöpft schien, denn er fügte einen Absatz hinzu, den Danowski nicht verstand, außer, dass die Stimmlage zwischen pedantisch und ansatzweise hämisch ausschlug.
    «Er sagt, dass Sie den Anzug ablegen können», dolmetschte die Animateurin. «Sie brauchen ihn jetzt nicht mehr.»
    Danowski merkte undeutlich, dass er sie anstarrte, als wäre ihr Gesicht eine Landschaft, aus der er schnell wieder abreisen wollte.
    «Aber ich muss mich doch schützen», sagte er.
    «Nein», sagte sie. «Das brauchen Sie jetzt nicht mehr. Sie bleiben hier.» Und dann, mit einem anfliegend aufmunternden Lächeln: «Sie sind jetzt einer von uns. Willkommen an Bord.»

[zur Inhaltsübersicht]
    Teil 2 Klabautermann
    26 . Kapitel
    Niemand achtete auf die Frau, die morgens gegen sechs in östlicher Richtung über die Reeperbahn taumelte. Im Grunde war sie eine von vielen, die zur gleichen Zeit in unterschiedlichen Geschwindigkeiten genau das Gleiche taten: Es wurde grundsätzlich einfach viel getaumelt auf der Reeperbahn.
    Die Frau war von weitem unauffällig genug: gekleidet in Grau und Schwarz, aber nicht elegant, sondern zweckmäßig, vielleicht eine Architektin, Lehrerin oder Zivilpolizistin. Ihre blonden Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, der erst beim Näherkommen ein wenig wirr und am Ende vielleicht sogar schmutzig aussah.
    Und beim Näherkommen sah man dann auch, was einen veranlasste, den Blick unauffällig abzuwenden und so zu tun, als wäre all dies völlig normal oder als hätte man es einfach nicht gesehen: über ihr Kinn und ihren Hals war offenbar eine dunkle Flüssigkeit gelaufen, von der noch die getrockneten Ränder und andere Reste zu sehen waren. Als hätte sie starken Kakao erbrochen und sich dann den Mund achtlos mit dem Ärmel abgewischt. Tatsächlich waren, wenn man genauer hingeschaut hätte, in den Resten der dunkelbraunen Flüssigkeit schwarze Flecken wie von Krümeln zu erkennen, Kaffeesatz, Erde. Vielleicht würde man im Vorübergehen die Ärmel ihres grauen Übergangsmantels aus dem Augenwinkel studieren und sehen, dass der rechte tatsächlich voller Flecken war. Vielleicht hätte einen irritiert, dass ihr Gesicht farbig aussah und gemustert, so, als hätte sie es sich tätowieren lassen. Vielleicht

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