Treibland
nicht einmal die Reling, bevor der Mann im dunkelroten Blazer sie grob am Arm zurückriss. Sie verschwand hinter der Reling, und das Letzte, was sie spürte, bevor sie das Gleichgewicht verlor und mit dem Kopf gegen das schwarze Metall des Schornsteinfußes schlug, war ihr Telefon, das ihr durch den Ruck der Bewegung aus der rechten Hand über die Reling flog und im Nichts verschwand.
25 . Kapitel
Einen Tag lang hatte er nichts unternommen. Vergeblich darauf gewartet, dass das Dezernat für Interne Ermittlungen ihn anhörte. Festgestellt, dass es sich dabei offenbar um eine Maßnahme handelte, um ihn zu beschäftigen, ohne ihn etwas tun zu lassen. Sich selbst von Stunde für Stunde mehr dafür gehasst, dass er seine Arbeit nicht erledigte und sich stattdessen daran hielt, was ein mittlerweile unerträglich leutseliger, fast freundlicher Behling von ihm verlangt hatte. Die Erkenntnis, dass Behling Finzi nichts von der Hypersensibilität erzählt hatte. Und Danowskis Unfähigkeit, das selbst zu tun.
Was war das Schlimmste, das passieren konnte, wenn Behling ihn überall als Sensibelchen lächerlich machte? Auf dem Heimweg hatte er das Gefühl gehabt, dass es besser war, lächerlich zu sein als untätig und feige. Und mit dem Rückenwind des gleichen Gefühls war ihm klargeworden, dass die beste Rache an Behling genau das war: tun, was der nicht wollte.
Er betrachtete, wie seine Füße den Asphalt vor der Gangway betraten. Seine Geschwindigkeit und die Tatsache, dass er dem Schiff immer näher kam, hatten sich aufgelöst in rein optische Signale: Schuhe im Gesichtsfeld, darunter die leicht unregelmäßige Struktur des Asphalts, die sich gegenläufig bewegte, als würde sie unter ihm weggezogen. Um sich davon loszureißen, hob er den Blick und ließ ihn haltlos über die Fassade des Schiffes gleiten bis dahin, wo hinter der Reling der Himmel anfing. Und da sah er sie. Rote Haare, eine Hand am Kopf, als telefonierte sie. Für einen Moment meinte er, nur die Hand nach ihr ausstrecken zu müssen, so nah schien sie ihm. Und dann sah er, wie sie sich nach hinten fallen ließ, um sich vor ihm zu verstecken. Im nächsten Augenblick war sie verschwunden und die Reling leer, als hätte dort niemals jemand gestanden.
Aber sie war da: Simone Bender. Und zu den Aufgaben der nächsten fünfhundert bis tausend Bewegungen würde gehören, sie zu finden und mit ihr zu sprechen. Und dann: weg, nach Hause, ins Bett. Etwas gegen seine Kopfschmerzen. Etwas, damit all das aufhörte.
Die distanzierte Forschheit der Bundespolizisten, die ihn kontrollierten, bevor er an Bord ging. Wie er den Schutzanzug am Ende der Gangway anzog, die Handschuhe verklebte, der Mundschutz zum ersten Mal etwas, wohinter er Zuflucht suchte und seine Züge ins Ungewisse gleiten ließ. Dann noch eine Kontrolle direkt an Bord. Jetzt nahmen sie ihm hier mit bürokratischer Verächtlichkeit die Dienstwaffe ab und gaben ihm eine Quittung, die ihm phantasievoll schien, die er aber in keine Tasche stecken konnte, weil er bereits den Schutzanzug trug, also behielt er sie in der Hand wie den Fahrschein bei seiner ersten Busfahrt ohne Eltern.
Das Schiff schien mit jedem Schritt durch die Gänge kleiner und schmaler zu werden. Hinter der hauchdünnen Kapuze konnte er so tun, als hörte er nicht, was ihm die Passagiere auf seinem Weg hinterherzischten. Scheißbulle. Stand das hinten auf seinem Anzug? Blinkte das in seiner Aura wie eine Las-Vegas-Leuchtreklame? Und warum verstand er das Wort sogar auf Portugiesisch?
In der Kabine von Simone Bender war nichts. Aber er hatte den Verdacht, dass er heute auch nichts gefunden hätte, wenn da etwas gewesen wäre. Nicht einmal ein Bullauge war da. Innenkabine. Offenbar eine, die nur pro forma gemietet worden war, weil immer klar gewesen war, dass sie bei Lorsch wohnen würde.
Aber wen von den aberhundert Passagieren konnte er fragen, ob sie Simone Bender kannten? Wer ihm entgegenkam, wich ihm aus: In seinem weißen Schutzanzug gehörte er nicht dazu, er kam von außen, er war ein Feind. Wahllos drängte er ein paar von denen, die nicht schnell genug waren, das Bild von Simone Bender und Carsten Lorsch auf und fragte nach ihr. Niemand wusste etwas oder wollte es sagen.
Er fuhr zum Oberdeck, fand aber nicht den Ort, an dem sie gestanden hatte, weil die Perspektive sich verändert hatte mit dem Licht, seit die Sonne verschwunden war. Er setzte sich in einen toten Winkel, aus dem Menschen davonhuschten. Zeit schinden, bis er
Weitere Kostenlose Bücher