Treibland
rot, während sie die Davidstraße überquerte. Ein Polizeiauto hupte und wich ihr aus, ohne anzuhalten. Die Frau bog nach rechts ab und ging die Davidstraße bergauf Richtung Bernhard-Nocht-Straße. Wenn der Schlachthofgeruch aus ihrer Plastiktüte nicht gewesen wäre, hätte sie die Mischung aus Erbrochenem, Bier und Urin wahrnehmen können, die in der Luft lag. Sie überquerte die Hopfenstraße, stützte sich alle paar Meter an der bronzenen Fassade des Riverside-Hotels ab, auf der sie oberhalb der oxidierten Urinmuster undefinierbare Handabdrücke hinterließ. Hotelgäste mit frühen Geschäftsterminen und Touristen, die aus der Herbertstraße kamen, wichen ihr aus, ohne ihr hinterherzublicken. An der nächsten Straßenecke sah sie die vage vertrauten Backsteinformen des Tropeninstituts, dann bog sie mit der weit heruntergedimmten Parodie eines Glücksgefühls in die Bernhard-Nocht-Straße ein.
Sie erreichte den Eingang nicht ganz, aber als sie in Sichtweite zusammenbrach und die rot-goldene Edeka-Tüte ihr aus der Hand fiel, ergoss sich ihr Inhalt so weit über den Bürgersteig, dass er bis zur Treppe lief, die hinauf zum Publikumseingang des Tropeninstituts führte.
Die Spuren ihres eigenen Untergangs auf dem schlecht ausgebesserten Gehwegasphalt waren das Letzte, was Kristina Ehlers sah, bevor sie diesen Spuren hinterherstürzte und das Bewusstsein verlor.
27 . Kapitel
Am liebsten spielte Steenkamp alleine. Drei Vormittage in der Woche hatte er dafür reserviert, und sein letztes Ziel im Leben war es, daraus sieben zu machen. An guten Tagen gelang es ihm, dabei an nichts zu denken als den nächsten Schlag. An weniger guten Tagen drang ihm ein Bedauern in die Routine, das er in seinen Bewegungen spürte wie einen gezerrten Muskel.
Er fand sich einzigartig darin, dass er nicht wie die meisten bedauerte, was er nicht getan hatte, sondern das eine oder andere von dem, was er getan hatte. Meine Fehler, wie er es für sich nannte: Fehler, die er aus Liebe begangen hatte oder aus Wut, aber niemals aus Angst. Fehler, als wäre sein Leben eine Prüfung gewesen, die nun abgeschlossen war, und man hätte die volle Punktzahl erreichen können, er aber wäre am Ende auf ein zwar weit überdurchschnittliches Ergebnis gekommen, aber eben nicht auf ein makelloses. Wegen der Fehler, die er gemacht hatte.
Er richtete sich noch einmal auf, ließ dann die Arme sinken und hielt den Putter so locker, dass er ihn kaum spürte. Angenommen, man wäre bei einer Prüfung der Beste, weil man weniger Fehler gemacht hatte als die anderen, hatte man dann wirklich Erfolg gehabt? Oder hätte das Ziel nicht sein müssen, gar keine Fehler zu machen?
Er spürte, dass er kurz davor war, das Bedauern zurückzudrängen wie ein Haustier, das sich zu übermütig aus seinem Käfig gewagt hatte. Das wird mein letzter Sommer, dachte er mit einer Klarheit, die ihn selbst verblüffte. Aus den Augenwinkeln sah er die nächsten Spieler, die darauf warteten, dass er seinen Ball ins Loch setzte.
Mein letzter Sommer.
Es war eine seltsame Erleichterung, sich vorzustellen, dass alles, was jetzt in diesem Augenblick da war, im nächsten Sommer nur noch nichts sein würde. Wie eine Erleuchtung spürte er, dass die Welt mit ihm untergehen würde. Alles, was nach seinem Tode weiterexistieren würde, war belanglos und uninteressant für ihn. Welche Realität sollte es jenseits seiner Welt geben, und welche Rolle spielte es für ihn, wie andere sich vor oder nach seinem Tod in der Welt bewegten? Keine. Er spürte, dass die Zeiten vorüber waren, in denen er sich geflüchtet hatte in Menschenliebe und Menschenhass. Mit mir endet die Welt, dachte Steenkamp, plötzlich sicher, den Ball ohne Probleme über die letzten drei, vier Meter einlochen zu können.
«Herr Steenkamp. Herr Steenkamp!»
Der Ball beschrieb das Halboval, welches Steenkamp ihm zugedacht hatte, aber nicht in der nötigen letzten Perfektion: Er blieb etwa einen Fußbreit vor dem Loch liegen. Peters, dachte Steenkamp, Peters ist ein schlimmer, dummer Mensch, der nichts begriffen hat, und vor allem nicht das Wichtigste von allem, was es für schlimme, dumme Menschen zu begreifen gilt: Stört mich nicht beim Schlagen. Und erst recht nicht beim Putten. Aber auf eine Art war auch seine Beziehung zu Peters ein Spiel und leider eins, in dem es Peters gelungen war, durch ein paar unelegante, aber effektive Züge die Oberhand zu gewinnen. Weshalb Steenkamp ihm zuhören musste. Und vielleicht sogar tun,
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