Treue Genossen
ist. Sie zog von ihrem Dorf zu ihrem Onkel und ihrer Tante nach Kiew, damit sie eine bestimmte Tanzschule besuchen konnte. Die Anforderungen sind streng, aber sie wird gemessen und gewogen und hat den richtigen Körperbau. Sie wird dazu auserkoren, ein Transparent mit der Parole >Vorwärts in eine strahlende Zukunft!< zu tragen. Sie freut sich, weil es an diesem Tag so warm ist, dass sie keinen Mantel anzuziehen braucht. Der junge Körper ist ein Wachstumswunder, die Zellteilung bringt praktisch einen neuen Menschen hervor. Und an diesem Tag wird sie ein neuer Mensch sein, denn ein Dunstschleier zieht vor die Sonne, ein Wind aus Tschernobyl. Und so enden ihre Tage als Tänzerin, und sie schließt Bekanntschaft mit der sowjetischen Chirurgie.« Sie fasste an ihre Narbe. »Zuerst die Schilddrüse, dann die Tumoren. Daran erkennt man den wahren Bewohner der Zone. Wir müssen beim Bumsen nicht aufpassen. Ich bin eine hohle Frau, du kannst mich schlagen wie eine Trommel. Und doch erinnere ich mich von Zeit zu Zeit an das alberne Mädchen, und ich schäme mich so für ihre Dummheit, dass ich sie eigenhändig erschießen würde, wenn ich mit einer Pistole in der Zeit zurückreisen könnte. Wenn mich dieses Gefühl überkommt, verkrieche ich mich im nächsten Loch oder in einem schwarzen Haus. Das ist kein Problem, denn schwarze Häuser gibt es genug. Sonst habe ich nichts zu fürchten. Warst du als Junge ehrgeizig? Was wolltest du werden?«
»Als kleiner Junge wollte ich Astronom werden und die Sterne erkunden. Dann erzählte mir jemand, dass ich gar nicht die wirklichen Sterne sah, sondern nur das Sternenlicht, das Jahrtausende zuvor erzeugt worden war. Was ich zu sehen glaubte, war also längst Vergangenheit, und damit verlor das Ganze für mich seinen Sinn. Natürlich lässt sich das Gleiche auch über meinen jetzigen Beruf sagen. Ich kann die Toten nicht zurückbringen.«
»Und die Verletzten?«
»Jeder ist verletzt.«
»Ist das ein Versprechen?«
»Es ist das Einzige, dessen ich mir sicher bin.«
Am Morgen hatte der Regen aufgehört, und die Hütte war wie ein Boot, das sicher im Hafen lag. Eva war fort, hatte aber auf einem Frühstücksbrett Schwarzbrot und Marmelade für ihn bereitgestellt. Beim Anziehen entdeckte Arkadi weitere Fotografien: eine Tänzerin, eine getigerte Katze, Freunde beim Skifahren, jemand, der sich an einem Strand die Augen beschirmte. Keine von Alex, was ihn, wie er sich eingestehen musste, beruhigte.
Als er durch die Fliegengittertür ins Freie trat, hatte er den Eindruck, dass die Weiden wie schüchterne Mädchen mit einem Fuß im Wasser standen und der angeschwollene Fluss einen erdigen Geruch verströmte und eine neue, voll tönende Stimme besaß. Er hatte schon eine ganze Weile nicht mehr mit einer Frau geschlafen, und er fühlte sich seltsam warm und lebendig. Blase in kalte Asche, dachte er, man weiß ja nie.
»Hallo.« Oxana Katamai schlüpfte um die Hausecke. Sie trug einen Jogginganzug und eine Strickmütze. In Ihrem Rucksack steckte möglicherweise eine Perücke oder auch ein Fresspaket für ihren Bruder Karel. Sie zog bei jedem Schritt den Kopf ein und schob die Hände in ihre Ärmel. »Sind alle schon auf?«
»Ja.«
»Wohnt hier die Ärztin?«
»Ja. Was tun Sie hier?«
»Ich habe Ihr Motorrad gesehen. Die Vespa daneben gehört meiner Freundin.«
»Einer Freundin?«
»Ja.«
Arkadi sah das Motorrad und den Roller im Hof, aber von der Straße aus dürften sie kaum zu sehen gewesen sein. Oxana lächelte und schaute sich neugierig um.
»Sind Sie schon lange hier?«, fragte Arkadi.
»Eine Weile.«
»Sie waren sehr leise.«
Sie lächelte und nickte. Sie musste den Roller die letzten fünfzig Meter mit abgestelltem Motor geschoben haben, sonst hätte er sie gehört, und offensichtlich fand sie nichts dabei, vor der Tür einer anderen Frau auf ihn zu warten.
»Müssen Sie heute nicht arbeiten?«, fragte Arkadi.
»Ich bin krank.« Sie deutete auf ihren kahlen Schädel. »Ich darf jederzeit zu Hause bleiben, wenn ich will. Es gibt sowieso nicht viel zu tun.«
»Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten, heiß oder kalt?«
»Sie haben es nicht vergessen. Nein, danke.«
Er blickte zu dem Roller. »Können Sie einfach so hier herumfahren? Was ist mit den Kontrollen?«
»Na ja, ich weiß, wie ich fahren muss.«
»Das weiß Ihr Bruder Karel auch. Das ist das Problem.«
Oxana trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. »Ich wollte nur sehen, wie es Ihnen geht. Wenn Sie mit
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