Treue Genossen
Stahlrohrstühle, Grautöne. In einer Ecke das lebensgroße Modell eines Samurai in lackierter Rüstung mit Visier und Hörnern.
Oschogin selbst besaß, obschon in ein maßgeschneidertes Hemd mit Seidenkrawatte verpackt, noch die kräftigen Schultern und die schmale Taille eines Ringers.
Der Oberst hatte nämlich eine zweigleisige Karriere hinter sich. Zum einen war er ein Ringer aus Georgien, wo man sich besser als irgendwo sonst darauf verstand, Gegnern Knoten in Arme und Beine zu machen. Zum anderen war er beim KGB gewesen. Der KGB mochte umgekrempelt und umbenannt worden sein, aber seine Agenten waren auf die Beine gefallen und hatten sich neue Betätigungsfelder gesucht. Mittlerweile gab es in Moskau kaum noch ein Unternehmen ohne einen ehemaligen Agenten im Vorstand. Denn wenn der Ruf nach weltgewandten Männern mit Fremdsprachenkenntnissen ertönte, wer war da geeigneter?
Der Oberst schob ein Formblatt und ein Klappbrett über den Tisch.
»Was ist das?«, fragte Arkadi.
»Werfen Sie einen Blick drauf.«
Es war ein Bewerbungsformular von NoviRus mit Feldern für Name, Alter, Geschlecht, Familienstand, Adresse, Militärdienst, Bildungsstand, Hochschulabschlüsse. Bewerben konnte man sich für die Bereiche Bankwesen, Anlagefonds, Börse, Gas, Öl, Medien, Marine, Waldressourcen, Bergbau und Sicherheit, als Übersetzer oder Dolmetscher. Der Konzern war vor allem an Bewerbern interessiert, die fließend Englisch sprachen, MS Office und Excel beherrschten, mit den Nachrichtenagenturen Reuters, Bloomberg und RTS vertraut und IT-bewandert waren, insbesondere an Naturwissenschaftlern, Buchhaltern, Juristen, Übersetzern, Dolmetschern oder Männern mit Kampfausbildung. Bewerber unter fünfunddreißig Jahren wurden bevorzugt. Arkadi musste zugeben, dass er sich selbst nicht eingestellt hätte.
Er schob das Formular zurück. »Nein, danke.«
»Sie wollen es nicht ausfüllen? Sie enttäuschen mich.«
»Wieso?«
»Weil es nur zwei mögliche Gründe für ihr Kommen gibt. Ein guter Grund wäre, dass Sie sich endlich dazu durchgerungen haben, in die Privatwirtschaft zu wechseln. Ein schlechter Grund wäre, dass Sie Pascha Iwanows Tod nicht auf sich beruhen lassen wollen. Weshalb versuchen Sie, aus einem Selbstmord einen Mord zu konstruieren?«
»Das tue ich nicht. Staatsanwalt Surin hat mich gebeten, die Sache für Hoffman, den Amerikaner, unter die Lupe zu nehmen.«
»Den haben Sie doch erst auf den Gedanken gebracht, dass da etwas zu finden wäre.« Oschogin hielt inne, stimmte sich offensichtlich auf ein heikles Thema ein. »Wie, glauben Sie, wird der Sicherheitsdienst von Novi-Rus dastehen, wenn der Eindruck aufkommt, dass wir nicht einmal den Chef unseres eigenen Unternehmens schützen können?«
»Wenn er sich das Leben genommen hat, kann man Ihnen kaum einen Vorwurf machen.«
»Außer wenn Fragen bleiben.«
»Ich würde gern mit Timofejew sprechen.«
»Ausgeschlossen.«
»Es wäre hilfreich.«
»Kommt nicht in Frage.«
Der einzige Gegenstand auf dem Schreibtisch neben einem offenen Laptop war eine Metallscheibe, die frei über einer anderen Scheibe in einem Kasten schwebte. Magneten. Die schwebende Scheibe zitterte bei jedem lauten Wort.
»Surin …«, begann Arkadi.
»Staatsanwalt Surin? Wissen Sie, wie das alles angefangen hat? Worum es bei Ihren Ermittlungen gegen NoviRus in Wahrheit ging? Es ging um Erpressung. Surin wollte nur Ärger machen, um sich dann schmieren zu lassen, und nicht nur mit Geld. Er wollte einen Posten im Aufsichtsrat. Und ich bin überzeugt, dass er ein hervorragendes Aufsichtsratsmitglied wird. Trotzdem war es Erpressung, und Sie haben mitgemacht. Was sollen die Leute von dem ehrlichen Ermittlungsbeamten Renko denken, wenn sie jetzt erfahren, dass Sie Ihrem Chef geholfen haben? Was soll aus Ihrem Ruf werden, der Ihnen so viel bedeutet?«
»Ich wusste gar nicht, dass ich einen habe.«
»In gewisser Weise schon. Sie sollten das Bewerbungsformular ausfüllen. Wissen Sie, dass über fünfzigtausend KGB-Agenten und Milizionäre privaten Sicherheitsfirmen beigetreten sind? Deshalb ist Moskau sicher, nicht wegen der Miliz. Wer ist denn heute noch bei der Miliz? Der Bodensatz. Ich habe Erkundigungen über Ihren Freund Viktor eingezogen. Laut Personalakte war er einmal bei einer Observation so betrunken, dass er eingeschlafen ist und sich in die Hosen gepisst hat. Vielleicht enden Sie auch so.«
Arkadi blickte aus dem Fenster. Sie befanden sich im vierzehnten Stock des
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