Treue Genossen
dem Motorrad von Wölfen gejagt wurde.
Slawutitsch war eigens für die aus Pripjat evakuierten Menschen erbaut worden, eine Nachfolgestadt mit großzügigen Plätzen und weißen Kommunalgebäuden, die aussahen wie überdimensionale Kinderbausteine - Bogen, Würfel, Säulen. Es war eine Stadt mit modernen Annehmlichkeiten. Espressobars bewirteten die Besucher eines vertieft angelegten Fußballstadions. Im Kulturpalast wurden Fengshui- und Origami-Kurse angeboten. Und die Wohnhäuser selbst waren in unterschiedlichen Baustilen gehalten und beispielsweise mit phantasiereichen litauischen Verzierungen oder ornamentalen Elementen usbekischen Mauerwerks versehen.
Olexander Katamai wohnte im vierten Stock eines »usbekischen« Hauses. Eine junge Frau im Jogginganzug und mit toupierter Hochfrisur führte Arkadi sogleich in ein Wohnzimmer, in dessen Mitte der Arbeitstisch eines Tierpräparators thronte, mit Lampen und einer Standlupe, unter der ein um den Kopf gewickeltes Dachsfell lag. Ein zweites Dachsfell schwamm weiter hinten in einem Eimer mit Gerblösung. In Regalen standen Plastiksäcke mit Ton und Pappmache und eine Menagerie ausgestopfter Tiere: ein Luchs, der die Zähne fletschte, eine Eule, die über die Schulter äugte, ein schleichender Fuchs. Zwei Jagdgewehre hingen in einem Glasschrank mit sowjetischer Flagge, Kleinkaliberflinten, liebevoll auf Hochglanz poliert wie zwei Violinen. An der Wand prangten mindestens zwanzig gerahmte Fotos von Männern mit Helmen, die Pläne studierten, Pfeiler setzten oder die Hebel eines Krans betätigten, und auf jedem mitten drin oder vorne dran die große, kräftige Gestalt Olexander Katamais. Arkadi betrachtete ein Foto von Arbeitern vor einem Kraftwerk genauer, und im nächsten Moment begriff er, dass es die erste Aufnahme war, die er vom intakten Reaktor vier in Tschernobyl sah, eine mächtige weiße Wand neben seinem Zwillingsreaktor drei. Die Gesichter der Männer auf dem Foto waren so entspannt und zuversichtlich, als stünden sie im Bug eines Ozeanriesen.
»Ist es der Chefinspektor?«, rief eine tiefe Stimme. »Ich komme.«
Arkadis Blick fiel auf eine gerahmte Tafel mit zivilen Orden, darunter »Veteran der Arbeit«, »Sieger im sozialistischen Wettbewerb« und »Verdienter Erbauer der UdSSR«, und mehreren Reihen militärischer Ordensbänder. Er stand noch davor, als Olexander Katamai in einem Rollstuhl ins Zimmer kam. Obwohl Ende Siebzig und Rentner, hatte er die Brust und die Schultern eines Arbeiters, dazu ein breites Bulldoggengesicht und fülliges weißes Haar. Er drückte Arkadis Hand so fest, als wollte er das Blut aus ihr herausquetschen.
»Sie sind aus Moskau?«
»Ganz recht.«
»Aber >Renko< ist doch ein guter alter ukrainischer Name.«
Katamai beugte sich vor, wie um in Arkadis Seele zu blicken, dann fuhr er herum und rief: »Oxana!« Sein Blick huschte zu Arkadi zurück und zu dem Präparat, an dem er gerade arbeitete. »Bewundern Sie mein Hobby? Haben Sie die Auszeichnungen gesehen?« Katamai rollte zu der Tafel und deutete auf eine Medaille mit arabischer Inschrift. »»Freundschaft des afghanischen Volks.< Die Freundschaft von Niggern, die muss das Leben meines Sohnes wohl wert gewesen sein. Oxana!«
Die Frau, die Arkadi geöffnet hatte, trug ein Tablett mit Wodka und Essiggurken herein und stellte es auf den Tisch. Sie wirkte etwas ungepflegt, doch ihr Haar war ein goldener Bienenstock. Sie hockte sich neben den Rollstuhl auf den Boden, während Katamai einen Standaschenbecher auf die andere Seite zog. Arkadi ließ sich auf einen Polsterhocker nieder. Er hatte das Gefühl, einer gestellten, in sich nicht stimmigen Szene beizuwohnen. Es lag an dem Tisch mit den beiden Dachshäuten, der eingeweichten und der anderen. Es lag an Oxana. Ihre Betonfrisur war eine Perücke. Aber das war nicht alles.
Katamai deutete auf die ausgestopften Tiere und fragte Arkadi: »Welches gefällt Ihnen am besten?«
»Oh, sie wirken alle lebensecht.« Eine bessere Antwort fiel Arkadi nicht ein, zumal er im ersten Moment am liebsten gesagt hätte: Da liegt eine tote Katze in Ihrem Regal.
»Geschmeidigkeit ist das A und O.«
»Geschmeidigkeit?«
»Man muss das Fleisch restlos entfernen und dann die Innenseite der Haut abschaben, bis sie blau wird. Auch der richtige Zeitpunkt, Temperatur und der Leim sind wichtig.«
»Ich wollte mit Ihnen über Ihren Enkel Karel sprechen.«
»Karel ist ein guter Junge. Habe ich Recht, Oxana?«
Oxana sagte nichts. Auf eine
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