Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Treue Genossen

Treue Genossen

Titel: Treue Genossen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
Vom Netzwerk:
nicht.«
    »Würde jemand, dem man von hinten die Kehle durchschneidet, nicht eher nach vorn fallen?«
    »Vermutlich. Ich habe nur die Leiche im Gefrierraum gesehen. Ich habe das Gefühl, ich rede mit einem Monomanen. Alles, was Sie an dieser ungeheuren Tragödie interessiert, die Hunderttausende das Leben gekostet hat und anhaltendes Leid verursacht, ist ein toter Russe.«
    Der alte Mann mit der Kuh näherte sich jetzt dem Kartentisch. Trotz der Hitze trug Roman Romanowitsch zwei Pullover. Sein rosiges, gut genährtes Gesicht, seine weißen Bartstoppeln und das unsichere Lächeln, das er Maria zuwarf, ließen auf einen Mann schließen, der vor langer Zeit eingesehen hatte, dass es sich lohnte, einer guten Frau zu gehorchen.
    »Wissen Sie«, fragte Eva Arkadi, »wie die Russen das Problem mit der verstrahlten Milch nach dem Unfall gelöst haben? Sie haben verstrahlte Milch mit nicht verstrahlter gemischt. Dann haben sie den Grenzwert für Milch so weit heraufgesetzt, dass er dem Niveau von Atommüll entsprach, und auf diese Weise dem Staat nahezu zwei Milliarden Rubel gespart. War das nicht schlau?«
    Roman zupfte Arkadi am Ärmel. »Milch?«
    »Er möchte wissen«, erklärte Eva, »ob Sie Milch kaufen wollen.« Sie spielte mit ihrem Halstuch. »Möchten Sie Milch von Romans Kuh?«
    »Der Kuh da?«
    »Ja. Ganz frisch.«
    »Nach Ihnen.«
    Eva lächelte und sagte zu Roman: »Chefinspektor Renko dankt Ihnen, muss aber ablehnen. Er ist gegen Milch allergisch.«
    »Danke«, sagte Arkadi.
    »Keine Ursache«, erwiderte Eva.
    »Er muss mal zum Abendessen kommen«, meinte Maria.
    »Bei uns bekommt er etwas Anständiges zu essen, nicht so einen Fraß wie in der Kantine. Er macht einen netten Eindruck.«
    »Nein, ich fürchte, der Chefinspektor muss bald nach Moskau zurück. Vielleicht schicken sie Medikamente oder Geld an seiner Stelle, jedenfalls irgendetwas Nützliches. Vielleicht überraschen sie uns.«
    Jeder Pendler musste, ehe er am Kernkraftwerk Tschernobyl in den Achtzehn-Uhr-Zug stieg, in die Kabine eines Strahlenspürgeräts treten und die Hände auf Metallplatten legen, bis ein grünes Licht signalisierte, dass er zum Bahnsteig weitergehen durfte. Der Zug selbst war ein Schnellzug, der ohne Zwischenstopp und Grenzkontrollen weißrussisches Gebiet durchquerte. Es war eine gemütliche Fahrt durch Kiefernwälder an einem Sommerabend.
    Die Männer saßen am einen Ende, die Frauen am anderen. Die Männer spielten Karten, tranken Tee aus Thermoskannen oder hielten in zerknitterten Kleidern ein Nickerchen. Die Frauen plauderten oder strickten Pullover und waren alle tadellos gekleidet. Keine hatte auch nur ein graues Haar, nicht so lange Henna auf Erden wuchs.
    Auf halber Strecke wurde es ruhiger im Wagen. Die Blicke wanderten zum Fenster, das mehr und mehr zum Spiegel wurde, und die Gedanken kreisten um zu Hause, das Abendbrot, die Kinder, das Privatleben.
    Auch Arkadi wurde vom gleichmäßigen Rattern des Zuges schläfrig und hing seinen Gedanken nach.
    Er rechnete es Eva Kaska hoch an, dass sie die Menschen in den Dörfern, die niemand sonst zu besuchen wagte, ärztlich betreute. Allerdings hatte sie ihn vor den alten Frauen wie einen Dieb behandelt, über den zu Gericht gesessen wurde. Eva wusste, wie man einen Menschen aus der Fassung brachte. In Gegenwart einer solchen Frau konnte einem Mann plötzlich ins Bewusstsein treten, dass sein Gewicht auf dem linken Fuß ruhte, und er stolperte über den rechten, was die Frauen aus dem Dorf glucksend verfolgt hatten. Eva Kaska hatte sie Überlebenskünstlerinnen genannt. Was für einen Eindruck machte er auf diese Leute? Den eines unerschrockenen Ermittlers, der eine Spur bis ans Ende der Welt verfolgte, oder den eines Mannes, der sich hoffnungslos verfranst hatte, in eine Sackgasse geraten war? Ein Signal blitzte vor dem Fenster auf, und Arkadi stellte sich vor, wie Pascha Iwanow durch die Luft flog. Er konnte so etwas weder gutheißen noch missbilligen. Nur, wenn die Leute unten ankamen, mussten andere die Schweinerei wegräumen.
    Und was hatte er bei seinem Ausflug mit Alex herausgefunden? Nicht viel. Dafür hatte er mindestens drei lauernde Wölfe gesehen, die hinter den Birken mit gelben Augen die Hirsche taxierten, und nicht nur die Hirsche, sondern auch Alex und ihn. Die Haare waren ihm zu Berge gestanden. Das Wort »Raubtier« bekam plötzlich eine tiefere Bedeutung, wenn man selbst die mögliche Beute war. Er lachte über sich selbst und stellte sich vor, wie er auf

Weitere Kostenlose Bücher