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Treue Genossen

Treue Genossen

Titel: Treue Genossen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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vorsichtig um. Ihre Wangen waren gerötet.
    Jetzt, aus nächster Nähe, war deutlich zu erkennen, dass ihr Kopf unter der Mütze kahl war. Sie zog sich die Mütze über die Ohren. »Sie müssen mich für ziemlich albern halten.«
    »Ganz und gar nicht. Ich habe gehofft, dass Sie mir folgen.«
    Sie sank langsam auf den Stuhl, ohne den Blick von ihm zu wenden. Er wartete, bis sie Platz genommen hatte, dann schob er ihr die Tasse hin. Eine Minute lang saßen sie schweigend da. Mit Einkaufstüten beladene Kunden kamen aus dem Supermarkt und schleppten sich unter Arkaden, die mit Symbolen für die friedliche Nutzung der Atomkraft geschmückt waren, von einer Seite zur anderen.
    Oxana nippte an ihrem Kaffee. »Er ist kalt.«
    »Tut mir Leid.«
    »Nicht doch, ich mag kalten Kaffee. Ich trinke ihn meistens kalt, wenn ich meinen Großvater bedient habe.«
    »Er ist eine starke Persönlichkeit.«
    »Er ist der Chef.«
    »Steht er Karel nahe?«
    »Ja.«
    »Und Sie?«
    »Karel ist mein kleiner Bruder.«
    »Haben Sie ihn gesehen oder mit ihm gesprochen?« Oxana grinste ihn breit an. »Mögen Sie die ausgestopften Tiere meines Großvaters wirklich?«
    »Ich bin kein großer Freund von Tierpräparaten.« Vielleicht lag das an seinem Beruf, sinnierte er.
    »Habe ich mir gedacht. >Lebensecht<. Genau wie wir in Slawutitsch.«
    »Arbeiten Sie im Kraftwerk?«
    »Ja.«
    »Was ist daran so attraktiv?«
    »Die Bezahlung war gut. Wer hier lebte und in Tschornobyl arbeitete, bekam fünfzig Prozent Zulage. Wir nannten das >Sarggeld<. Mein Großvater bekommt zusätzlich eine Erwerbsunfähigkeitsrente. Aber die Sache hat einen Haken.«
    »Weil Sie Tschernobyl abwickeln und sich in ein paar Jahren eine neue Arbeit suchen müssen?«
    »Bei dem Tempo, mit dem wir vorankommen? Das wird hundert Jahre dauern. Nein, das ist nicht der Haken.«
    »Was dann?«
    »Sie kürzen uns die Löhne um fünfundsiebzig Prozent. Nach Abzug von Miete und Nebenkosten werden wir dafür, dass wir in Tschornobyl arbeiten dürfen, draufzahlen. Aber wir haben Arbeit, und das will in der Ukraine was heißen. Aber auch das ist nicht der Haken.«
    »Was dann?«
    Oxana rückte die Mütze zurecht, so dass die Ohren zum Vorschein kamen. »Ruhig hier, finden Sie nicht?«
    »Ja.« Arkadi sah einen Kunden, der aus dem hell erleuchteten Supermarkt kam, zwei Schulmädchen mit Ranzen, einen Mann mit einer Zigarette im verwitterten Gesicht, insgesamt nicht mehr als zehn Personen auf dem gesamten Platz mit seinen Wandelhallen.
    »Alle ziehen fort. Man hat die Stadt für fünfzigtausend Einwohner gebaut, aber mittlerweile sind es keine zwanzigtausend mehr. Über die Hälfte der Wohnungen steht leer. Der Haken ist, dass man auf kontaminiertem Boden gebaut hat. Das Cäsium aus Tschornobyl hat uns bereits erwartet, als wir aus Pripjat nach Slawutitsch kamen. Wir sind ihm nicht entronnen.« Oxana lächelte wie über einen Witz, der nie alt wurde, und krempelte ihre Mütze herunter. »Ich trage die Perücke, weil es die Frauen bedrückt, wenn sie mich kahl geschoren sehen. Aber ich fühle mich ein wenig wie ein ausgestopftes Tier, wenn ich sie aufhabe. Was meinen Sie?«
    »Oben ohne ist heute sehr modern.«
    »Wollen Sie mal sehen?« Sie nahm die Mütze ab und entblößte einen fast vollkommen runden Schädel mit bläulichen Schatten. Im Kontrast zu der Kahlheit erschienen ihre Augen noch größer und strahlender. »Fühlen Sie mal.« Sie nahm seine Hand und führte sie über ihren Kopf. Er fühlte sich wie poliert an. »Und? Was sagen Sie?«
    »Glatt.«
    »Ja.« Sie setzte die Mütze wieder auf und lächelte wie jemand, der ein Geheimnis preisgegeben hat. »Sie vermissen Pripjat.«
    »Ja.« Sie nannte ihm ihre alte Adresse: Straße, Hausnummer und Wohnung. »Wir hatten die beste Aussicht, direkt aufs Wasser. Im Herbst sahen wir die Enten am Fluss entlang nach Süden fliegen und im Frühjahr am Fluss entlang nach Norden.«
    »Oxana, haben Sie Ihren Bruder gesehen?«
    »Wen?«
    »Haben Sie Karel gesehen?«
    Arkadis Handy klingelte. Er versuchte es zu ignorieren, doch Oxana nutzte die Unterbrechung, stürzte ihren restlichen Kaffee hinunter und erhob sich vom Stuhl. »Ich muss los. Das Essen für meinen Großvater kochen.«
    »Bitte. Es dauert nur eine Sekunde.« Eine Ortsnummer leuchtete auf dem Display auf. »Hallo?«, meldete sich Arkadi.
    Ein Mann sagte: »Hier ist Ihr Freund aus dem Hotel in Pripjat.«
    Der Mann mit dem Klempnerwerkzeug und dem Federkerngrill, den er durch die Schule

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