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Treue Genossen

Treue Genossen

Titel: Treue Genossen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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machen.«
    »Er hat ja nichts Böses getan. Er hat den Dienst bei der Miliz quittiert, na und? Karel ist ein großer Junge. Er kann selbst auf sich aufpassen.«
    »Haben Sie jemals von zwei Physikern namens Iwanow und Timofejew gehört?«
    »Nein.«
    »Waren die beiden nie in Tschernobyl?«
    »Woher soll ich das wissen?«
    Arkadi fragte nach Namen von Verwandten und Freunden, die Karel besucht oder kontaktiert haben könnte, und Katamai schickte Oxana nach nebenan, um eine Liste zu erstellen. Während sie warteten, wanderten Katamais Augen zurück zu den Fotos an der Wand. Eines war wahrscheinlich am Internationalen Frauentag aufgenommen worden, denn es zeigte einen jüngeren Katamai, umringt von Frauen mit Helmen. Auf einem anderen Foto schritt er forsch an der Spitze einer Gruppe von Technikern, die Laborkittel trugen und sichtlich Mühe hatten, mit ihm Schritt zu halten.
    »Als Bauleiter müssen Sie große Verantwortung getragen haben«, sagte Arkadi.
    Katamai erwiderte nichts, während nebenan Papier raschelte. Dann füllte er abermals die Gläser. »Wissen Sie, die Abschaltung der drei anderen Reaktoren hatte ausschließlich politische Gründe. Sie war völlig unnötig. Die wären noch zwanzig Jahre gelaufen, und wir hätten Nummer fünf, sechs, sieben und acht bauen können. Tschornobyl war und ist die beste Atomkraftanlage überhaupt. Wohlfahrtsorganisationen haben sich eingemischt und die Statistiken aufgebauscht. Was ist leichter, das Ausland zu melken oder ein Kraftwerk zu betreiben? Und so sind wir von einer Weltmacht zu einer Nation dritter Klasse herabgesunken. Wissen Sie, wie viele tatsächlich an den Folgen von Tschernobyl gestorben sind? Einundvierzig. Nicht Millionen, auch nicht Hunderttausende. Einundvierzig. Wir haben nämlich die wunderbare Entdeckung gemacht, dass der menschliche Organismus viel höhere Strahlendosen verkraftet, als wir früher geglaubt haben. Nur leider hat die Radiophobie überhand genommen. Einundvierzig! So viele sterben jeden Tag in den Krankenhäusern von Kiew an Lungenkrebs, aber deswegen verlässt doch keiner die Stadt.« Das Stichwort Lungenkrebs veranlasste Katamai, nach einer Zigarette zu suchen. »Es gibt immer Leute, die Hysterie verbreiten und Bemühungen um eine Normalisierung untergraben, dieselben Elemente, die aus dem Chaos immer Profit schlagen. Früher hatten wir sie unter Kontrolle. Diesmal haben sie die gesamte Sowjetunion zerrüttet. Gemeinsam wurden wir als Weltmacht respektiert, jetzt sind wir ein Haufen Bettler. Darf ich Ihnen was zeigen? Kommen Sie.«
    Katamai schwang energisch den Rollstuhl herum und kurbelte sich nach nebenan, in ein Arbeitszimmer, in dem seine Enkelin an einem Schreibtisch Namen und Telefonnummern auflistete. Der Schreibtisch und alle anderen Möbelstücke waren an die Wand gerückt, um Platz zu schaffen für eine Arbeitsplatte, auf der ein Modell des Kernkraftwerks Tschernobyl stand. Es war ein Architektenmodell mit stilisierten grünen Bäumen und einem breiten, aus blauem Kunststoff geschnittenen Pripjat-Fluss. Alle sechs Reaktoren standen dort und beschworen einen Augenblick in der Zeit, in Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft, der nie existiert hatte und nie existieren würde. Es war ein komplettes Modell aus Pappe mit Kühltürmen, Maschinenhäusern, Brennelementelager, den Kuppeln von Wassertanks und einer Reihe von Hochspannungsmasten. Auf den Zufahrtsstraßen standen Miniaturlaster und menschliche Figuren, um die Größenverhältnisse zu veranschaulichen. Hier war der Unfall niemals geschehen. Hier war die Sowjetunion noch intakt.
     
    Arkadi wusste, dass ihm Oxana aus der Wohnung gefolgt war. Sie trug noch ihren Jogginganzug, doch statt der Perücke hatte sie eine Strickmütze aufgesetzt, und sie huschte wie eine Maus von Hauseingang zu Hauseingang. Da sein Zug erst in einer Stunde fuhr, ging er in ein Cafe namens Colombino, setzte sich an einen Tisch auf der Terrasse, von wo aus er die matten Lichtkegel der Straßenlaternen im Blick hatte, und bestellte zwei Kaffee. Die baulichen Errungenschaften der Zivilisation - Rathaus, Fußballstadion, Kino und Supermarkt - existierten, waren nur nicht mit Leben erfüllt.
    Er beobachtete, wie Oxana am Supermarkteingang bei einem Bauern einen Apfel kaufte, ihn zu essen begann, während sie den Platz überquerte, und dann so tat, als sei sie überrascht, ihm hier zu begegnen.
    »Erwarten Sie jemanden?« Ihr Blick fiel auf die zweite Tasse. »Offen gesagt, Sie.«
    Sie schaute sich

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