Treue Genossen
»und das ist keine Morduntersuchung. Wir sind in Tschornobyl, und das ist ein ersoffener Betrunkener. Das ist ein Unterschied.« Er sah ihn schräg an. »Nicht so schüchtern, riskieren Sie einen Blick.«
Die Leute des Hauptmanns machten Arkadi widerstrebend Platz. Die Brüder Woropai feixten, als sie das Diktiergerät in seiner Hand sahen.
»Schießen Sie los«, forderte ihn Martschenko auf. »Wir können alle noch was lernen.«
»Am 10. Juni, 10.15 Uhr, wird am Kühlwasserzufluss des Kernkraftwerks Tschernobyl eine männliche Leiche aus dem Wasser geborgen, schätzungsweise über sechzig Jahre alt, zwei Meter groß, bekleidet mit Lederjacke, blauen Arbeitshosen und Bauarbeiterstiefeln.« Ein wirklich hässlicher Mann mit aufgedunsenem, vom Aufenthalt im Wasser bleichem Gesicht, braunen, ungepflegten Zähnen und durchweichten Kleidern.
»An den Gliedmaßen ist Leichenstarre festzustellen. Kein Ehering.« Arme und Beine strebten gen Himmel, die Finger waren gespreizt. »Braunes Haar.« Arkadi zog ein Augenlid nach oben. »Augen braun. Iris des linken Auges stark erweitert. Der vollständig bekleidete Leichnam weist keine Tätowierungen, Muttermale oder sonstige besondere Kennzeichen auf. Keine erkennbaren Hautabschürfungen oder Quetschungen. Näheres bei der Obduktion.«
»Es wird keine Obduktion geben«, meinte Martschenko.
»Wir kennen ihn«, sagte Dymtrus Woropai.
»Er heißt Boris Hulak«, erklärte Taras. »Plünderer und Fischer aus Pripjat, zieht ständig von Wohnung zu Wohnung.«
»Haben Sie Gummihandschuhe?«, fragte Arkadi.
»Wollen Sie sich die Hände nicht nass machen?«, wollte Martschenko wissen.
Auf ein Nicken des Hauptmanns hin öffneten die Woropais den Reißverschluss an der Jacke des Toten und zogen eine Ausweishülle mit Papieren hervor.
Martschenko las laut vor. »Boris Petrowitsch Hulak, geboren 1949, wohnhaft in Kiew, Maschinenschlosser von Beruf. Mit Foto.« Das gleiche hässliche Gesicht mit dem finsteren Blick eines Lebenden. Er war der Klempner, davon war Arkadi überzeugt. Martschenko warf ihm den Ausweis zu. »Mehr brauchen wir nicht zu wissen. Ein Sozialschmarotzer ist aus seinem Boot gefallen und ertrunken.«
»Wir werden nachsehen, ob er Wasser in den Lungen hat.«
»Er hat geangelt.«
»Wo ist die Rute?«
»Er hat einen Wels gefangen. Er hatte eine ganze Flasche Wodka intus. Er hat in seinem Boot gestanden. Ein Wels, größer als er, hat ihm die Rute aus der Hand gerissen, da hat er das Gleichgewicht verloren und ist über Bord gegangen. Eine Obduktion ist überflüssig.«
»Vielleicht war die Flasche leer. Wir können nicht einfach davon ausgehen, dass er betrunken war.«
»Und ob wir das können. Er war ein bekannter Trinker, er hat allein gefischt und ist reingefallen.« Martschenko zog das Jagdmesser aus seiner Uniformjacke, das er Arkadi neulich gezeigt hatte, das Wildschweinmesser. »Sie wollen eine Obduktion? Hier haben Sie Ihre Obduktion.« Er stieß Boris Hulak das Messer in den Bauch. Das süßliche Gas verdauten Alkohols entwich. Arkadi kam der Samogon von gestern wieder hoch.
»Und ob er betrunken war.«
Selbst die Woropais wichen vor der übel riechenden Wolke einen Schritt zurück. Martschenko wischte die Klinge an der Jacke des Toten ab.
»Und dann wäre da noch die Sache mit dem Auge«, stieß Arkadi zwischen flachen Atemzügen hervor.
»Was für eine Sache?«, fragte der Hauptmann.
»Das rechte ist normal, aber die Iris des linken ist stark erweitert, das könnte bedeuten, dass er einen Schlag auf den Kopf bekommen hat.«
»Er verwest. Die Muskeln erschlaffen. Seine Augen können sich in unterschiedliche Richtungen drehen. Dann hat sich Hulak eben den Kopf am Boot angeschlagen, als er über Bord gegangen ist. Was spielt das für eine Rolle?«
»Er ist kein Wildschwein. Wir müssen nachsehen.«
»Der Chefinspektor hat Recht«, mischte sich Eva Kaska ein. Sie war von ihrem Wagen herübergekommen. »Wenn ich Ihnen einen Totenschein ausstellen soll, müssen wir die Todesursache klären.«
»Und dazu brauchen wir eine Obduktion?«
»Ich denke schon«, antwortete Eva, »bevor Sie wieder in die Leiche stechen.«
Sie sprach nicht viel. Boris Hulak lag nackt auf einem stählernen Tisch, den Kopf auf einen Holzblock gestützt. Arkadi sprach ebenso wenig wie Eva, während sie mit einem Schnitt vom Hals bis zur Leiste den Leichnam öffnete und dann mit den Händen Organe heraushob und in separate Schüsseln legte, alles mit der Eile eines Menschen,
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