Treue in Zeiten Der Pest
der Nacht waren noch fern. Die Schreie der Sterbenden verschluckte die Dämmerung, und die Menschen trauten sich aus ihren Häusern heraus.
Jetzt öffneten am frühen Abend sogar wieder die Geschäfte. Plötzlich standen alle Ladentüren offen, und es wurden wieder allerlei Waren angeboten. Händler priesen ihre Erzeugnisse und Produkte an. Und Menschen flanierten durch die Gassen.
Von den Stadtoberen war nichts zu sehen und zu hören. Sie hielten sich vorsichtshalber in Deckung, in der Hoffnung, die Bevölkerung könne ihr erbärmliches Vorgehen während der letzten Wochen rasch vergessen. Wenn sich die Stadt wieder erholt hatte, würden die Herren wahrscheinlich ungeniert aus ihren Löchern kriechen und sich als Beschützer des öffentlichen Wohls feiern lassen.
Henri machte einen letzten Gang durch die Gassen, bevor er Quimper zusammen mit den Gefährten noch in dieser Nacht verließ. Die Stadt kam ihm dabei plötzlich so behaglich vor wie nie zuvor. Warum nur hatte erst das große Sterben über diesen reichen Handelsknotenpunkt hereinbrechen müssen, bevor ein gesundes Maß an Menschlichkeit dorthin zurückgekehrt war?
Henri genoss den Anblick der vielen Lichter, die jetzt wieder überall aufleuchteten. In den Zeiten der Pest hatte man an allem gespart, jetzt zeigten die Bewohner, dass sie nichts mehr fürchteten. Sie waren bereit, ihre letzten Vorräte zu verbrauchen, denn die Krankheit schien besiegt. Es war, als sei sie durch die offenen Stadttore geflohen.
Die Menschen hatten die Pestkleidung abgelegt. Auffallend viele junge Menschen flanierten jetzt wieder über den Rathausplatz, unter den Platanen entlang, zu den Garküchen, aus denen endlich wieder köstliche Düfte aufstiegen. Der Himmel war wunderbar klar, und er erinnerte Henri an schöne Abende in Jerusalem, an denen er unter einem ähnlich klaren Himmel gesessen hatte.
Aber in Jerusalem hatte es nie eine Seuche gegeben.
Plötzlich entstand vor einer Händlerbude Unruhe. Ein junger Mann hatte sich abrupt abgewendet, er krümmte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammen und erbrach sich. Dann sank er auf die Knie. Die Umstehenden waren inzwischen auseinander gestoben.
Henri war Zeuge dieser kleinen Szene. Was noch vor wenigen Wochen als vollkommen normaler Vorfall abgetan worden wäre, löste heute panische Ängste aus. Denn es machte deutlich, dass der hauchdünne Boden aus Hoffnung und Selbstbetrug jederzeit aufbrechen konnte.
Auch Henri spürte, wie sein Entsetzen zurückkehrte. Er lauschte dem Wind, der auch zuvor schon gerauscht hatte, aber er klang jetzt anders. Er wehte das Rattern der Viehkarren herüber, die die Leichensäcke abtransportierten. Das Knattern der Pestratschen schien so laut zu werden, als würde ein riesiger Dreschflegel über dem Rathausplatz durch die Luft geschleudert. Pestbader erschienen und ließen ihre Schellen erklingen. Die Glocken von Saint-Corentin begannen dumpf zu dröhnen. Und die Straßen füllten sich wieder mit Toten. Die Menschen fuhren zusammen und hasteten in die Kirchen. Danach legte sich Stille über Quimper.
Die Angst, die sich in der milden, duftigen Abenddämmerung aufgelöst hatte und einem Freiheitsgefühl gewichen war, kehrte zurück.
Henri dachte an die Freunde. Sie mussten diese Stadt auf der Stelle verlassen. Er konnte keinen Aufschub mehr dulden. Henri fürchtete, die Seuche könnte doch noch, in letzter Minute, zu einem großen Schlag ausholen und sie treffen. Und er wollte nicht die Schuld daran tragen. Daher machte er kehrt und ging zum Haus von Medicus Monacis zurück, zunächst langsam, dann immer schneller, bis er schließlich wie um sein Leben rannte.
Atemlos erreichte er sein Ziel. Er klopfte an, und, ohne eine Antwort abzuwarten, trat er im gleichen Moment schon ein. Die Freunde in der Stube starrten ihn an, als wäre das Unheil persönlich eingekehrt.
»Wir brechen sofort auf«, sagte Henri. »Die Pest wütet weiter in Quimper. Wir haben keine Zeit zu verlieren.«
17
Ende Mai 1318. Gott ist gut
An den Ufern der Odet ließ es sich problemlos reisen. Die Felder in Richtung Coatbily standen bereits in voller Blüte. Erst jetzt begriffen die Gefährten, wie viel kostbare Lebenszeit vergangen war, während sie in Quimper festgesessen hatten. Die Natur hatte nicht mit der Seuche paktiert. Sie ließ alles so prächtig gedeihen wie immer.
Als die Odet nach Osten abbog, ritten die Freunde nach Norden weiter, in Richtung Saint-Brieuc. Die weiten Wiesen
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