Treue in Zeiten Der Pest
nichts mehr.
Henri konnte zwei Tage lang nicht reiten. Er war zu schwach. Aber die Schmerzen verschwanden wieder, und es bildete sich keine neue Pestbeule. Er teilte das seltene Glück weniger anderer, die von der Seuche nur gestreift worden waren. Der Tod hatte ihn angeschaut und sein Interesse an ihm verloren.
»Gott ist gut«, flüsterte Sean. »Ich will nie mehr daran zweifeln. Und auch die Schöpfung ist gut. Die Landschaft, durch die wir reiten, ist herrlich. Die Luft ist rein und klar. Es ist einfach schön, es ist schön zu leben.«
»Inschallah!«, sagte Joshua.
Henri bedachte Uthman mit einem dankbaren Blick. Der Sarazene beobachtete ihn unaufhörlich. Henri fühlte, wie das Leben in ihn zurückkehrte.
Er schonte sich auf seinem Lager, und die Gefährten sammelten Kräuter. Uthman legte ihm am Morgen ein großes Blatt mit einer wohlriechenden Paste in die Achselhöhle. Es war eine unglaubliche Wohltat.
Am dritten Tag brachen sie auf.
Sie ritten langsam, um Henri zu schonen. Und sie machten lange Pausen.
Mit jeder Stunde, die sie weiter ostwärts kamen, wurde Henri bewusster, wie kostbar das Leben war. Er hatte überlebt. Welch ein Geschenk.
Und er hatte die besten Freunde, die man sich nur wünschen konnte.
18
Anfang Juni 1318. Libreville, Grafschaft Seine-Maritime
Das Dorf in den weiten Hängen der Normandie stand Kopf. Drei Gasthäuser zogen sich entlang der Straße nach Dieppe, und dazwischen lag eine Badestube. In diesen Häusern wurde heute gefeiert.
Als Henri de Roslin und seine Gefährten nach langer Reise in Libreville einritten, hörten sie das Horn des Baders und Messingbecken, die ein Einwohner als Signal schlug. Noch bevor die Ankommenden sich eine Unterkunft suchen konnten, drängte eine fröhlich lachende Schar von jungen und alten Menschen sie zur Seite.
»Willkommen, Fremde!«, schrie ein Weib mit weißer Haut und großem Busen. »Kommt mit ins Bad. Denn nur dort herrscht heute Freude.«
»Überall, wo Haare sitzen, ist Freude!«, rief ein Bauer, und alle lachten ausgelassen. Und dann war der Haufen auch schon verschwunden.
Die Angekommenen ließen ihre Pferde versorgen und achteten darauf, dass die Tiere ordentlich trockengerieben wurden. Im Gasthof waren Zimmer frei, überall roch es sauber und frisch, sogar Leinenlaken waren über die Strohsäcke gezogen worden. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlten sich die Gefährten wohl.
Eine Nachhut der Badegesellschaft, drei muskulöse Männer mit Hauben und umgelegten Tüchern, kam eine Treppe herunter, sie grüßten die Ankömmlinge und verschwanden nach draußen.
»Wir haben eine Hochzeit im Ort«, erklärte der Wirt den verblüfften Gefährten lachend. »Der Bürgermeister heiratet die junge Witwe des Wollhändlers. Da geht es hoch her. Und bis zum Mahl vergnügt man sich im Wasser.«
»Da, wo wir herkommen, meidet man Wasser in der Regel«, sagte Joshua. »Hier scheint es anders zu sein.«
»Warum sollte man Wasser meiden?«, fragte der Wirt verwundert.
»Die Ärzte sind überwiegend der Meinung, dass mit dem Wasser schädliche Stoffe über die Haut in den Körper eindringen«, erklärte Joshua.
Der Wirt stutzte zunächst, dann konnte er ein herzhaftes Lachen nicht unterdrücken. »Setzt euch erst einmal, Fremde. Esst und trinkt. Heute ist alles umsonst«, sagte er, und kopfschüttelnd fuhr er fort: »Wasser soll also schädlich sein. Das behaupten bei uns im Ort nur die anständigen Trinker. Was ist denn das für eine Gegend, aus der ihr kommt?«
»Wir kommen aus der Bretagne«, erklärte Joshua.
»Oh!«, entfuhr es dem Wirt. »Da sollen ja schlimme Krankheiten gewütet haben. Kein Wunder, dass die Menschen sich da seltsam benehmen.«
»In Quimper wütete die Pest«, sagte Uthman nüchtern. »Es gab unzählige Tote!«
Der Wirt wiegte sorgenvoll den Kopf. Aber dann hellte sich seine Miene wieder auf. Er deutete auf den Herd.
»Nehmt euch von dem Schweinebraten. Er ist innen ganz saftig und außen schön kross. Ein wahrer Leckerbissen!«
Joshua und Uthman lehnten dankend ab und ließen sich stattdessen eine Lammwurst bringen, dazu deftiges Bauernbrot und frische Milch. Henri und Sean sprachen dem Schweinebraten zu, der ihnen ausgezeichnet mundete.
»Hier bei euch scheint es allen gut zu gehen«, meinte Henri zum Wirt. »Wir haben lange keine so ausgelassene Stimmung mehr erlebt.«
»Wisst ihr, im Vertrauen gesagt«, der Wirt rückte näher. »Wir waren in den letzten Wochen in großer
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