Treue in Zeiten Der Pest
dichter Wälder, und sie mieden die Ortschaften. Beim Anblick der schönen Landschaft, durch die sie kamen, beruhigte sich ihr Gemüt vorübergehend. Doch an der Straße nach Beaumanoir holte sie der Schrecken wieder ein. Dort entdeckten sie eine abgebrannte Kapelle, aus deren Dachgerippe noch Rauch aufstieg. Kurz danach sahen sie, wie über einem kleinen Weiler eine auffallend beharrliche Schar Kolkraben kreiste. Verlassene Höfe und zugeschüttete Brunnen zeugten von soeben erst geschehenen schrecklichen Ereignissen. Eine Steinbrücke über einen Fluss war eingerissen worden, und die Gefährten mussten lange nach einer Furt suchen. Das Wasser war klar, und sie wagten es, davon zu trinken. Uthman fing ein paar Fische, die ihnen gebraten herrlich schmeckten.
Noch am selben Abend war es Henri plötzlich, als kröche eine sonderbare Kälte durch sein Inneres. Er fühlte sich müde, und sein Kopf begann heftig zu schmerzen. Henri bemühte sich, keine Angst zu haben und die Mattigkeit zu verdrängen. Aber noch bevor er sich zum Schlafen ans Feuer legte, hatte er das Gefühl, seine Organe schrumpften zusammen. Rasch richtete er sich auf und reckte die Arme. Doch das Gefühl, er schrumpfe innerlich, ließ nicht nach.
Die Gefährten blickten Henri besorgt an. In ihren Augen las er die Angst, die er selbst unterdrücken wollte. Als er auch noch Schmerzen in der Leistengegend und am Hals verspürte und danach mit kalten Fingern tastete, hatte er plötzlich Gewissheit.
Und dann war er auf einmal ganz ruhig. Ist das schon der Tod?, fragte er sich. Eine heitere Gelassenheit stieg in ihm auf. Das Schlimmste ist die Angst vor der Seuche, dachte er. Jetzt, wo ich sie in mir trage, brauche ich diese Angst nicht mehr zu haben.
Die Gefährten sagten nichts, sie brachten nur mehrere Decken herbei und legten sich rund um Henri nieder. Nach einer Weile hörten sie auf, ihn zu beobachten.
In der Nacht träumte Henri. Er sah zwei junge Frauen, die er nicht kannte, Hand in Hand über eine Wiese gehen. Es schien eine Wiese in seiner schottischen Heimat zu sein, sie war grün und sehr hoch gewachsen. Schließlich sah er, dass die jungen Frauen sich nicht bewegten, nur ihre Kleider bauschten sich im Wind. Dieser Wind kam merkwürdigerweise aus einer Kapelle, die mitten auf der Wiese stand. Sie schien ihm vertraut mit ihrer mächtigen, in rötlichen Farben leuchtenden Westwand, deren Funktion er allerdings nicht verstand. Die beiden Frauen gingen in die Kapelle hinein und verschwanden darin. Wenig später ertönte aus dem Kircheninneren ihr Lachen, das immer lauter wurde und ihn schließlich aufweckte.
Henri fuhr hoch. Seine Gefährten starrten ihn an, ihre Gesichter waren bleich, und ihre Blicke wirkten besorgt. Über den Baumwipfeln dämmerte es bereits.
Henri spürte einen starken Schmerz an seiner rechten Halsseite. Und als er die Hand dorthin legte, bemerkte er die Geschwulst. Sie war hart und groß. Er erschrak nicht, denn er hatte ja bereits Gewissheit.
Aber dann packte ihn die Angst schließlich doch.
Sein ganzer Körper schien sich in der kranken Stelle an seinem Hals zusammenzuziehen. Der gesamte Schmerz saß dort, zog und zerrte. Henri krümmte sich zusammen.
»Was sollen wir tun?«, hörte er Joshua sagen.
»Wir schneiden die Beule auf«, sagte Uthman. »Ich las in einem der arabischen Ärztebücher, dass das helfen könnte.«
»Nein!«, schrie Sean verzweifelt auf.
»Und wenn Henri daran stirbt?«, fragte Joshua ruhig. »Er stirbt ganz gewiss, wenn wir die Beule nicht aufschneiden.«
»Also gut«, stimmte Sean matt zu.
Henri war zu schwach, um sich zu wehren. Er ließ alles mit sich geschehen. Er schien einen Schock erlitten zu haben.
Die Freunde entblößten seinen Oberkörper, und Joshua hielt seinen Arm fest. Sean erhielt den Auftrag, Uthmans Dolch über den Flammen des wieder aufflackernden Lagerfeuers zu erhitzen. Als die Klinge schwarz verrußt war, nahm Joshua sie und wischte sie an seinem Rock ab. Dann gab er sie Uthman.
Der Sarazene blickte Henri an und legte ihm die Hand auf die heiße Stirn. Dann steckte er ihm ein Stück Astholz zwischen die Zähne.
»Zubeißen!«, sagte er.
Mit einer einzigen kräftigen Bewegung schnitt Uthman die Pestbeule auf. Sofort trat ein grünlich-gelber, mit Blut durchsetzter Ausfluss heraus, der fürchterlich stank.
Henri biss so fest er konnte auf das Holz. Sein Herz hämmerte bis zum Hals, und in seinem Inneren verkrampfte sich alles. Außer dem Schmerz spürte er
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