Treue in Zeiten Der Pest
beispielsweise vorgeschlagen, als Schutz gegen die Ansteckung in Wein getauchtes Brot zu essen. Andere behaupteten, dass der Duft der Gewürznelken eine abwehrende Wirkung besäße. Und wieder andere verordneten Süßigkeiten, die besonders wirksam sein sollten, wenn man sie in frischem, kaltem Wasser aufbewahrte und mit anregenden Substanzen wie Melisse und Ochsenzungenblüten sowie sehr gutem Zucker versetzte.
Weitere Ratschläge hatte Uthman in einem uralten Pestconsilium entdeckt. Der Leibarzt eines Mailänder Fürsten hatte Aderlässe am Kopf des Erkrankten empfohlen. Als Selbstschutz wurde die Waschung von Gesicht und Händen mit Rosenwasser empfohlen, trübe oder neblige Luft sollte unbedingt vermieden werden, und frühmorgens sollte man sich mit einem wohl riechenden Feuer aus Eichen-, Eschen-, Oliven- und Myrtenholz einräuchern. Zusätzlich in die Flammen geworfener Balsam, Weihrauch oder Sandelholz verstärke die Wirkung, hieß es weiter.
Uthman schüttelte den Kopf. Für ihn war das hilfloses Christengerede. Er konnte sich kaum vorstellen, dass sich die Pest mit guten Gerüchen austreiben ließ. Was allerdings immer geholfen hatte, das wusste er mit Sicherheit, war die rechtzeitige Flucht aus den verseuchten Gebieten. Sollten sie daher nicht am besten die Beine in die Hand nehmen und aus Quimper fliehen, solange noch Zeit war? Je länger Uthman darüber nachdachte, desto einleuchtender schien ihm dieser Gedanke.
Gerade wollte er seinen Schritt beschleunigen, um Henri diese Eingebung mitzuteilen, als ihm einfiel, was seinen Plan zunichte machte: Sean. Was auch geschah, er würde an Angéliques Krankenbett verweilen – bis sie gesundete oder verstarb. Und ohne ihn würde Henri auch nicht gehen.
Als Uthman in die Nähe von Saint-Corentin kam, stieß er auf die Pilgermassen, die noch immer in der Stadt waren. Was treibt diese Menschen bloß?, fragte er sich. Trauten sie ihren Priestern und deren Worten wirklich? Uthman hatte die Erinnerung an seinen letzten Aufenthalt in Quimper weitgehend verdrängt. Er interessierte sich nicht für diese Stadt der christlichen Hysterie, er verachtete jeglichen religiösen Wahn. Die Stimmen aus seinem Inneren rieten ihm, fünfmal am Tag zu Allah, dem Allerbarmer, zu beten und über die Menschen freundlich zu urteilen. Alles andere ging ihn nichts an.
Plötzlich stürmte eine Gruppe aufgeregter junger Männer an ihm vorbei, die ihre Schwerter gut sichtbar an der Seite trugen. Einer von ihnen rempelte Uthman an und starrte ihm feindselig in die Augen, als sei er es gewesen, der sich allein durch seine Anwesenheit ungebührlich verhalten habe. Uthman ließ sich jedoch nicht provozieren. Er ging einfach weiter. Diese Stadt mit ihren verrückten Menschen ging ihn nichts an. Er war nur hier, weil Sean hier sein Glück finden wollte.
Die Unruhe ließ den Knappen in der folgenden Nacht nicht schlafen. Er hielt seine Untätigkeit nicht mehr aus. Sie trieb ihn in den Wahnsinn. Er musste zu Angélique.
Um die anderen nicht zu wecken, verließ er sein Zimmer so leise wie möglich. Auf dem Flur begegnete ihm eine riesige Ratte, die langsam auf ihn zukam. Ihr feuchtes Fell glänzte im matten Schimmer der Flurkerze. In dem schummrigen Licht erkannte Sean, dass der Nager merkwürdig hin und her torkelte, fast, als würde er tanzen. Dann drehte sich das Tier plötzlich einmal im Kreis, stieß ein schrilles Fiepen aus und brach zusammen. Als Sean an dem reglosen Fellhaufen vorbeiging, sah er, dass dem Tier Blut aus der Schnauze rann. Der Anblick ließ ihn schaudern, und er verließ das Haus so schnell wie möglich.
Die Straßen waren dunkel, obwohl der Mond schien. In diesem Licht wirkte die Stadt mit ihren niedrigen Steinhäusern auf Sean seltsam bedrückend. Die Ratten, die mittlerweile überall herumliefen, taten ihr Übriges, um Sean weitere Schauer über den Rücken zu jagen. Die Tiere schienen von überall her zu kommen, einige von ihnen waren offenbar in einen ähnlichen Todeskampf verwickelt wie die Ratte, die Sean in der Herberge begegnet war. Der Knappe spürte, wie ihm übel wurde. Er hörte das jämmerliche Quieken der Tiere und entdeckte bei allen Kadavern, auf die er stieß, große Blutlachen.
Sean lief schneller. Er wollte möglichst schnell das Haus des Buchmalers erreichen. Dort würde er den armen Joshua ablösen, der nun schon die zweite Nacht Wache hielt.
Als er das Haus erreicht hatte, fand er Joshua zusammengesunken auf einem Stuhl neben Angéliques
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