Treue in Zeiten Der Pest
vor der Freude über seine Auferstehung lagen sein Leiden und sein Tod. Leiden und Tod waren die Bedingung für das vom Vater geschenkte erneuerte Leben, und so verkündeten die Priester es der Gemeinde.
In diesen Tagen waren die Kirchen übervoll. Die Gemeinden folgten dem Weg Jesu, ließen sich ergreifen, wollten sterben und auferstehen. Sie beteten die Blutzeugen an, die für ihren frühen Glauben in den Tod gegangen waren, und wer es wirklich verstand, der vollzog auch eine kurzzeitige, schmerzhafte Trennung von seinen Lebensgewohnheiten, um der Leiden des Herrn in der Wüste zu gedenken.
Für Henri de Roslin war diese Zeit mit ihren Messen immer ein Geschenk gewesen, und er nahm inbrünstig an ihr teil, weil er spürte, dass mit ihr zugleich eine neue Weltzeit anbrach. Diese neue Zeit war immer schon wirksam und erfahrbar, bevor sie anbrach, wenn auch nur verborgen. In der vergehenden Zeit, so glaubte er, war die neue stets gegenwärtig. Und das tröstete ihn, besonders in diesen Tagen in Quimper, wo sie bedrohliche Dinge zu erwarten hatten.
Ist es tatsächlich der Weg zum ewigen Leben, den wir in diesen Tagen beschreiten müssen?, fragte sich Henri. Geht dieser Kelch wirklich nicht an uns vorüber?
Henri hatte immer geglaubt, dass es irgendwann einmal einen achten Wochentag geben würde, an dem sich die Schöpfung vollendete. Dann würde Jesu wirklich unter ihnen sein, und das Leben wäre vollkommen.
Aber auf dem Weg dorthin schien diese Prüfung nötig zu sein. Herr, betete Henri mit gesenktem Kopf und auf Knien, prüfe noch einmal, ob diese Pein wirklich nötig ist, damit wir Menschen zur Besinnung kommen. Haben wir uns tatsächlich so schwer mit Schuld beladen, dass du uns so unsanft wecken und so schrecklich bestrafen musst? Welche Sünde hat mein Knappe Sean begangen, dass sie mit dem grausamen Leid seiner Liebsten vergolten werden muss?
Angélique hatte in den letzten beiden Tagen zunächst eine Besserung erlebt. Sie war zu sich gekommen und hatte über ihre schrecklichen Träume sprechen können. Sean war überglücklich gewesen, hatte sie getröstet und ihr zu essen und zu trinken gebracht. Die beiden hatten sogar Pläne für die Zukunft geschmiedet.
Doch noch am gleichen Abend war die Krankheit zurückgekehrt und hatte das Mädchen mit Hitze, Schmerzen und Auswurf gequält. Einer der Knoten unter ihrer linken Achsel war aufgeplatzt. Magister Priziac hatte übel riechenden, gelben Sud herausgekratzt, und auch Blut war geflossen. Als er die offene Wunde mit Theriak zu schließen versuchte, hatte Angélique erneut das Bewusstsein verloren. Zwei weitere Knoten hatten sich gebildet, die sich hart und holzig anfühlten.
Das Gesicht der Kranken hatte eine grünliche Farbe angenommen, die Lippen glichen einer Toten, ihr Atem ging stoßweise. Immer tiefer war Angélique in ihr Strohlager eingesunken, ganz so, als ob ein unsichtbares Gewicht auf ihrem schwachen Leib gelegen hätte. Und die Gefährten am Krankenlager hatten endgültig alle Hoffnung aufgegeben.
Bis jetzt hatte sich an Angéliques Zustand nichts mehr geändert. Sean war bei ihr. Er wich jetzt nicht mehr von ihrem Lager.
Henri erhob sich und verließ die Kirche. Draußen warteten die Gefährten auf ihn.
Eine Brise zog vom Meer herüber. Sie trug einen salzigen Geruch mit sich, der Henri an die Weite der offenen See erinnerte. Auch ein schwacher Blumenduft mischte sich darunter. Henri atmete tief ein. Dann entdeckte er die beiden Freunde, die am Rand des Kirchenvorplatzes auf ihn warteten. Henri ging ihnen entgegen. Die friedliche Stimmung auf dem Platz munterte ihn auf. Die Menschen, an denen er vorüberging, sprachen freundlich miteinander. Einige Mädchen lachten und sprangen im Kreis herum. Alles schien plötzlich wieder so leicht. Die dumpfen Sorgen, die Henri noch in der Kirche verfolgt hatten, fielen von ihm ab.
»Lasst uns ausreiten!«, rief Henri seinen Freunden schon von weitem zu. »Ans Ufer der Odet und dann weiter ans Meer! Es ist ein so schöner Tag heute!«
Die Freunde holten ihre Pferde aus einem der städtischen Ställe am Markt und ritten los.
Am östlichen Ufer der Odet kamen ihnen Treidelgänger entgegen. Ihre Pferde zogen hoch beladene kleine Schiffe und Flöße nach Quimper. Die großen Frachtschiffe ankerten im Seehafen von Benodet, dort, wo das Meer eine natürliche Bucht ausgewaschen hatte. Immer wieder begegneten ihnen auch Karren und Kufenschlitten, die große Basaltblöcke beförderten. Diese waren
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