Treue in Zeiten Der Pest
ihn in Ruhe, und hört auf seine Worte!«, mischte sich nun die Alte ein, die die Legende erzählt hatte. »Er sagt die Wahrheit, ebenso wie ich.«
Aber die Fleischhauer drängten die Frau grob zur Seite.
»Leute, hört zu!«, rief ihr Anführer. »In dieser Stadt sind schon genug gute Christenmenschen gestorben. Wir hatten alle Angst, aber jetzt kennen wir das Übel. Es ist das vergiftete Brunnenwasser. Und dieser Jude hier ist schuld daran, lasst ihn uns also zur Rechenschaft ziehen!«
»Seid doch nicht so dumm!«, protestierte die Alte. »Auch damals hat es nichts genützt, die Juden zu bestrafen. So werdet ihr dem Tod nicht entrinnen. Das Wasser ist nicht vergiftet, glaubt mir, es wird euch gut tun.«
»Ach, Alte. Du hast doch keine Ahnung«, entgegnete der Fleischhauer. »Dieser Hund hier soll jetzt für seine Missetaten büßen. Es ist allerhöchste Zeit.«
Joshua erstarrte. Nein, dachte er. Nicht schon wieder eine solche Pein.
Maire Michel hatte Stadtmedicus Jurreau und den Stellvertreter des Bischofs, Priester Rohan, zu sich gerufen. Die beiden Männer hätten unterschiedlicher nicht sein können. Der Medicus war ein imposanter Mann mit roten Haaren und kräftigen Händen, der Geistliche hingegen war klein und hager und wirkte unscheinbar. Die drei Männer saßen allein hinter den verschlossenen Türen des Sitzungssaals im ersten Stock des Rathauses.
»Ich lasse euch hier nicht eher fort, als bis ihr mir geraten habt, was angesichts der drohenden Seuchengefahr zu tun ist«, sagte der Bürgermeister.
Rohan äußerte sich als Erster. »Das Beten des Rosenkranzes und das Beten ganz allgemein sind in dieser Situation das Wichtigste. Wer nicht fest im Glauben ist, wird kaum eine Chance haben. Zur Sicherheit kann man zusätzlich auch Bisamäpfel oder Riechkapseln, die mit wohlriechenden Duftstoffen gefüllt sind, an den Gürtel hängen. Noch besser wäre allerdings, jeder Einwohner trüge eine Reliquienmonstranz mit Splittern des Heiligen Kreuzes bei sich. Auch Zierfiguren des Heiligen Sebastian und des Heiligen Rochus können Schutz bieten.«
»Dann liege ich mit meiner eigenen Schutzmaßnahme offenbar schon ganz richtig«, sagte der Bürgermeister. »Ich bewahre seit gestern ein heiliges Amulett in meiner Schlafkammer auf. Auf der Vorderseite ist die Anbetung der ehernen Schlangen durch die Juden zu sehen und auf der Rückseite die Kreuzigung unseres Herrn Jesus. Das wird mir den Pesthauch sicher auch vom Leib halten.«
»Wie soll das gehen?«, fragte Jurreau verblüfft.
»Kennt Ihr die Geschichte nicht? Die eherne Schlange, die sich um den Kreuzespfahl ringelt, erinnert an den Auszug der Israeliten aus Ägypten, die ihre Wanderung ins Gelobte Land nicht fortsetzen konnten, weil sie von Hunger und Durst gepeinigt wurden. Viele waren sehr krank, und dann ließ Gott auch noch Feuerschlangen gegen sie los, sodass eine große Zahl von ihnen starb. Moses bat Gott daraufhin um Schonung für sein Volk, und der Herr antwortete: ›Fertige eine Feuerschlange und befestige sie an einer Stange. Jeder, der gebissen ist und sie anschaut, soll am Leben bleiben.‹ Und so geschah es auch. Das Abbild einer Feuerschlange sollte daher gegen jede Krankheit helfen, auch gegen die übelste Seuche.«
»Ihr kennt Euch in der Heiligen Schrift gut aus«, lobte Rohan den Ratsherrn.
»Ein solches Amulett hätte ich auch gerne«, sagte der Medicus.
»Wenn Ihr Euch beeilt, werdet Ihr irgendwo in der Stadt sicher noch eines bekommen, gegen gutes Geld, versteht sich«, entgegnete der Geistliche. »Aber vergesst nicht, beten ist immer noch das beste Heilmittel. Ich kenne keine löblichere Seuchenabwehr. Wir werden daher täglich Gottesdienste abhalten und überall in der Stadt Wegkreuze errichten lassen, an denen die Menschen beten können. Außerdem werden wir Prozessionen abhalten. Auf diese Weise bleibt in den Herzen und Gedanken der Menschen kein Platz für die Seuche, und so drängen wir sie einfach zurück.«
»Ich werde Euch unterstützen, so gut ich kann«, sagte der Bürgermeister.
»Wir müssen allerdings auch noch in anderer Hinsicht vorsorgen«, warf der Priester ein. »Wir müssen vermeiden, dass die Bürger unserer Stadt einander aus dem Weg gehen und sich niemand um seinen Nächsten kümmert. Es darf nicht so weit kommen, dass durch die Heimsuchung die Herzen der Männer und Frauen so von Angst befallen sind, dass ein Bruder den anderen verlässt, der Onkel den Neffen, die Schwester den Bruder und die Frau
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