Treue in Zeiten Der Pest
Schenkel. »Frei nach dem Motto, die Angst vor der Pest ist weitaus schrecklicher als die Pest an sich, habe ich Recht? Der neu aufkeimende Hass gegen die Juden lenkt ab, und die Vertreibung der Gottesmörder hat den angenehmen Nebeneffekt, dass das Loch in der Stadtkasse wieder kleiner wird, denn die Juden haben uns einiges abgeschachert. Das wird übrigens auch ein gutes Argument für viele Bürger sein, sich an unserem kleinen Komplott zu beteiligen, schließlich stehen auch sie oft in der Schuld der jüdischen Kreditgeber.«
»Aber sind die Stadtjuden nicht dem König unterstellt? Wird er ein solches Pogrom nicht als Angriff auf seine Autorität verstehen?«
»Ach, Unsinn, das Judenregal steht doch nur auf dem Papier! In Wahrheit interessiert es den König einen feuchten Kehricht, was mit den Juden geschieht.«
»Ich weiß nicht!« Der Medicus schüttelte zweifelnd den Kopf. »Euer Plan gefällt mir nicht. Was Ihr vorhabt, leistet der Seuche doch nur Vorschub! Überlegt doch, wie Sitten und Moral verfallen werden, wenn die Judenhetze erst einmal begonnen hat. Es wird zu Mord und Totschlag kommen, die gesamte Stadt wird verwahrlosen, und dann gibt es kein Halten mehr!«
»Ach was, das regeln wir schon!«, entgegnete der Bürgermeister leicht gereizt.
»Seid nicht zu leichtfertig!«, riet Jurreau. »Ihr könntet mit Eurem Plan das genaue Gegenteil von dem bewirken, was Euer Ziel ist.«
Doch der Bürgermeister war mit seinen Gedanken schon woanders. »Vielleicht können wir sogar noch ein paar Geißler in die Stadt lotsen. Ihr Anblick ist immer äußerst wirkungsvoll. Bußfertige Sünder, die sich auf blutige Weise selbst züchtigen – das hat das Volk noch immer beeindruckt. Sie werden denken, das Ende der Welt sei nahe und nur tiefste Reue könne sie erretten. Danach werden sie sich darum schlagen, alles zu tun, was wir anordnen.«
»Geißler sind mir allerdings gar nicht recht«, protestierte der Priester. »Sie lenken die Gläubigen zu sehr vom wahren Sinn aufrichtiger Bußfertigkeit ab. Manchmal hat man den Eindruck, als sei die Zurschaustellung des Fleischlichen das Einzige, was das Volk an diesen Büßern interessiert.«
»Nun, wir werden sehen!«, sagte der Bürgermeister. »Hauptsache, wir sind uns einig darin, dass jedes Mittel recht ist, um die Pest zu bekämpfen. Und wenn unsere Feinde dabei gleich mit untergehen – umso besser!«
Sie lag mitten in der Kirche. Das Mittelschiff musste an diesem Abend in Vorbereitung für die kommende Messe gründlich ausgekehrt werden. Und da lag sie. Das Licht der rundum entzündeten Kerzen flackerte gespenstisch über ihren aufgedunsenen Körper. Die für die Reinigung zuständige Hilfskraft schrie bei ihrem Anblick laut auf. Der Schrei hallte an den hohen Wänden von Saint-Corentin wider, und auf den Arkaden der Empore wachten einige schlafende Pilger auf.
»Gott erbarme sich! Die Welt geht unter, das ist ein sicheres Zeichen.«
Der herbeieilende Sakristan sah sofort, was los war. Er bekreuzigte sich und sagte: »Der Satan hat Einzug in dieses Gotteshaus gehalten. Durch welche unbekannten Ritzen kann er eingedrungen sein? Wir müssen es herausfinden. Inzwischen entsorgt dieses scheußliche Vieh, diese grässliche Ratte!«
Doch die Putzfrau war nicht in der Lage, irgendetwas zu tun. Der Anblick des toten Tieres hatte sie erstarren lassen. Kurz entschlossen packte der Sakristan die fette, blutige Ratte daher selbst am Schwanz und trug sie hinaus. Er wandte das Gesicht ab und hielt das Tier weit von sich entfernt hoch in die Luft. Seine festen Schritte hallten in der Kathedrale wider. Eine Gläubige, die noch vor der Messe ihr Seelenheil im stillen Gebet suchte, schrie auf, als sie das Tier erblickte, und flüchtete entsetzt. Der Sakristan erreichte das Freie, eilte über den Vorplatz, wo ihn etliche entsetzte Augenpaare verfolgten, und warf die Ratte auf einen am Rand des Platzes aufgeschichteten Abfallhaufen.
Erst danach entdeckte er den Menschenauflauf. Er hielt inne und trat näher. Inmitten eines Pulks aufgebrachter Städter stand ein kleiner bebrillter Mann, auf den wiederholt eingeschlagen wurde.
Der Sakristan verabscheute jede Art von Gewalt. Er hatte seinen Vater bei einer Messerstecherei verloren und wusste, was blinder Hass, wie er ihn jetzt vor Augen hatte, anrichten konnte. Daher trat er entschlossen in den Kreis der Aufgebrachten.
»Was ist hier los? Was hat euch dieser Mann getan?«
»Was geht es Euch an! Schert Euch…«
»Sch!
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