Treue in Zeiten Der Pest
Es ist Julius, der Sakristan!«
»Was hat euch dieser Mann getan?«
»Er ist Jude! Er hat unsere Brunnen vergiftet.«
Der Sakristan sah den Beschuldigten an. Er erblickte einen gedemütigten, aber nicht ängstlichen Mann, in dessen Miene Verachtung und Wut geschrieben standen.
»Lasst ihn in Ruhe! In der Nähe eines Gotteshauses dulde ich keine Gewaltausbrüche!«
»Er hat tote Ratten in die Quellen geschmissen! Dadurch schleicht sich die Krankheit in die Stadt. Er will uns alle vergiften.«
Jetzt wurde der Sakristan hellhörig. Er wandte sich an Joshua und fragte: »Ist das wahr?«
»Ich bin ein Gelehrter aus Toledo. Glaubt Ihr dem Geschwätz?«
»Ist das Eure ganze Verteidigung?«
»Wie und warum sollte ich mich verteidigen, wenn meine Schuld für alle Umstehenden schon feststeht?«
»Das ist wahr«, entgegnete der Sakristan. »Kommt mit mir in die Kirche! Diese Anschuldigungen erfordern eine intensive Überprüfung. Solange gebe ich Euch Asyl. Und ihr«, sagte der Sakristan zu den Umstehenden, »ihr geht jetzt nach Hause!«
Murrend machten die Leute den beiden Männern Platz. Der Sakristan hakte Joshua unter, zum Zeichen, dass er ihm Schutz gewährte, und führte ihn in die Kirche hinein. Joshua ließ sich zögernd mitziehen. Es war ihm klar, dass der Sakristan ihm das Leben gerettet hatte, doch es wäre ihm lieber gewesen, er hätte sich selbst retten können.
»Nun sprecht!«, befahl der Sakristan, als er Joshua in den Monstranzenraum seitlich des Altars gebracht hatte.
»Was soll ich sagen? Ich begleite den Kaufmann Henri de Roslin auf seiner Reise. Wir sind Tuchhändler und ziehen in Kürze weiter. Die Anschuldigungen, die diese Männer dort draußen gegen mich vorgebracht haben, sind natürlich frei erfunden, so wie fast alle Anschuldigungen, die gegen uns Juden vorgebracht werden, frei erfunden sind.«
»Dass Ihr Jude seid, gebt Ihr also zu?«
Joshua zögerte. »Ja«, sagte er dann. »Ich bin jüdischen Glaubens. Doch ich glaube an denselben Gott wie Ihr.«
»Ihr Juden seid die Mörder unseres Herrn Jesus!«
»Wir sind das auserwählte Volk Gottes!«, sagte Joshua. »Unter dem Joch der römischen Besatzung handelten einige der Unsrigen allerdings wider besseren Wissens. Sie glaubten nicht an die Ankunft des Messias, weil die Gefangenschaft zu schwer auf ihnen lastete.«
»Gebiert Not also Unglaube?«, fragte der Sakristan.
»Damals war es so«, erwiderte Joshua. »Und vergesst nicht – Jesus war Jude, Aramäer, der Sohn einer jüdischen Mutter und eines jüdischen Vaters.«
»Nun, darüber will ich jetzt nicht streiten«, sagte der Sakristan. »Ich habe Euch Asyl gewährt, weil ich Gewalt verabscheue – ganz gleich, gegen wen sie sich richtet. Aber sagt mir eines: Vorhin, kurz bevor ich auf den Vorplatz kam, entdeckte ich hier mitten in der Kirche eine tote Ratte! Erklärt mir, wie sie hierher kommt.«
»Aber Herr Sakristan, was verlangt Ihr von mir? Woher soll ich das wissen?«
»Ihr habt das Tier also nicht hier hineingeworfen?«
»In der Stadt gibt es inzwischen Hunderte von toten Ratten. Glaubt Ihr allen Ernstes, das sei meine Schuld? In Quimper grassiert eine schlimme Seuche! Ihr macht es euch alle ziemlich einfach, indem ihr die Verantwortung dafür den Juden übertragt.«
»Gemach, gemach. Werdet nicht frech, Jude. Sonst überlege ich mir, ob ich Euch nicht doch besser wieder dem Pöbel überlasse. Wie lange seid Ihr schon in der Stadt?«
»Einige Tage.«
»Und seit einigen Tagen grassiert die Seuche in Quimper. Was sagt Ihr dazu?«
»Dazu kann ich nichts sagen. Genauso gut könntet Ihr meinen Begleiter beschuldigen, die Seuche verschuldet zu haben. Er ist ebenso lange in der Stadt wie ich, allerdings ist er Christ. Ebenso wie die zahlreichen Pilger übrigens, die auch erste wenige Tage in Quimper weilen. Doch ganz gleich, woher die Seuche gekommen ist, allein dadurch, dass Ihr sie einem Sündenbock in die Schuhe schiebt, wird sie nicht wieder verschwinden. Ihr müsst die hygienischen Verhältnisse in der Stadt verbessern.«
Der Sakristan starrte Joshua noch eine Weile lang an. »Nun gut. Ich will Euch glauben«, sagte er dann. »Eure Argumente klingen vernünftig. Bleibt in der Kirche, bis sich die Leute draußen verzogen haben, aber, wenn ich Euch bitten darf, fasst hier nichts an!«
Henri und Uthman hatten Joshua seit dem vergangenen Abend nicht mehr gesehen. Daher zogen sie nun durch die Stadt, um ihn zu suchen. Die Straßen wirkten fast überall trist und
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