Treue in Zeiten Der Pest
eine heilende Kraft. Die junge Frau schien jetzt zumindest ruhiger zu atmen. Sean beobachtete, wie sich ihr lebendiges Gesicht unter dem gemalten bewegte, wie ihr Mund den Atem einsog und sich das Tuch darüber bewegte, als sei das Bildnis wahr und die Wahrheit das Bild.
Sean sah, wie sich feuchte Flecken auf dem Tuch bildeten. Hatte sein Herr ihm nicht erzählt, wie sich auf dem Leichentuch Jesu Schweißflecken gebildet hatten, die bis heute noch zu erkennen waren? Hatten die Templer es nicht bei ihren geheimen Zeremonien angebetet? Und war es nicht so gewesen, dass dieses Leichentuch manchmal von Leben erfüllt zu sein schien?
Sean seufzte. Das waren Geschichten, die man sich erzählte, aber ob sie sich je so abgespielt hatten, konnte er nicht entscheiden.
Sean nahm das Tuch von Angéliques Gesicht herunter. Plötzlich lächelte das Mädchen. Es war kein befreites Lächeln, es wirkte angestrengt und verkrampft. Aber es war ein Lächeln. Angélique lächelte unter Schmerzen. Irgendetwas in ihrem Inneren nahm anscheinend wahr, was um sie herum geschah. Ob Angélique seine Stimme hören konnte?
»Angélique, wenn du mich hörst, dann wisse, dass ich dich niemals verlassen werde. Ich bleibe bei dir. Ich schwöre es. Wir werden uns niemals trennen.«
Sean beobachtete, wie die Kranke zu kämpfen schien. Es war, als ginge von Zeit zu Zeit ein heftiges Zucken durch ihren Körper, obwohl sich die junge Frau gar nicht bewegte. Kämpfte sie darum, zu erwachen? Saß ein böser Dämon ihn ihr drin, der das verhindern wollte und sie langsam aussaugte? Was war es, das ihr Blut vergiftete?
Angélique lag nun schon seit drei Tagen im Bett und rührte sich nicht. Würde sie je wieder gesund werden?
Mit einem Mal hatte Sean das Gefühl, es nicht mehr auszuhalten. Er musste hinaus. Er stand auf, strich Angélique noch einmal über die feuchte Stirn und stieg die Treppe hinab. Als er auf der Straße stand, sog er gierig die frische Abendluft ein. Dann blickte er sich um und konnte kaum glauben, dass das Leben hier draußen einfach weiterging. Menschen hasteten hin und her, amüsierten sich oder erledigten irgendeine Arbeit. Aus einer Garküche zogen appetitliche Düfte zu ihm herüber. Plötzlich spürte Sean, welchen Hunger er hatte. Er hatte in den letzten Tagen kaum etwas gegessen.
Auf der Suche nach etwas Essbarem schlenderte Sean die Straße hinunter, in dem Angéliques Elternhaus stand und in der noch immer emsig gebaut und gepflastert wurde. Als er an ihrem Ende angekommen war, stieß er auf eine Menschenansammlung.
Neugierig nährte er sich der Gruppe Schweigender, die sich in einem dichten Ring um ein unbekanntes Zentrum gruppiert hatten. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, reckte den Hals und versuchte, über die Köpfe der vor ihm Stehenden zu blicken. Er konnte allerdings nichts erkennen. Da beschloss er, sich vorzudrängein. Er erntete zwar missmutige Blicke, und manch einer stieß ihm einen Ellenbogen in die Rippen, aber schließlich gelangte er in die erste Reihe.
Das Erste, was er sah, waren Henri und Joshua, die ihm gegenüberstanden. Sie starrten auf das Etwas, das vor ihnen am Boden lag. Als sich seine Verwunderung, seinen Herrn und dessen Freund zu sehen, gelegt hatte, folgte er den Blicken der beiden und sah auf das aus Tausenden kleiner Kieselsteine bestehende Pflaster.
Dort lag eine junge Frau. Ihr Kleid war über die Knie gerutscht, sodass die nackten Beine bis zu den Schenkeln bloß lagen. Auch die Arme waren nackt. Und weil das Kleid stark durchlöchert war, war auch der Bauchnabel zu sehen. Seans Blick wanderte hinauf zum Kopf der Frau, der schlaff zur linken Seite herabhing. Als er ihren Hals erblickte, musste er eine Sekunde lang die Luft anhalten. Mehrere schwarze Flecken waren dort zu sehen. Und weiter oben vom Mund aus rann ein feiner Streifen Blut zum Kehlkopf hinab. Es sah aus wie bei einer der Ratten, die Sean vor kurzem hatte sterben sehen. Der einzige Unterschied bestand darin, dass das Blut der Frau schon getrocknet war.
Saure Galle stieg aus Seans Magen auf, und er musste sich abwenden. Das Einzige, was er noch hörte, war, wie jemand sagte: »Sie ist tot und hat keine Schuhe an! Mein Gott, warum trägt die Arme bloß keine Schuhe?«
Uthman hatte sich in der Stadt umgesehen. Zum ersten Mal war ihm aufgefallen, wie viel Bauschutt, Müll, Kehricht, Mist und Tierkadaver am Straßenrand lagen, vor allem in den ärmeren Vierteln. Die Hauseigentümer, die für die Beseitigung
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