Treue in Zeiten Der Pest
bieten in der Not Geheimrezepte an«, sagte Uthman. »Aber keines hilft wirklich. Sie machen die Kranken nur ärmer. Ihr wärt damals wahrscheinlich auch ohne den Würfel wieder gesund geworden. Aber selbst wenn nicht – dies hier ist kein gewöhnliches Fieber. Es ist die Pest, und gegen sie ist kein Kraut gewachsen.«
»Wenn es wirklich die Pest ist«, überlegte Hildegardis, »müsste meine arme Tochter dann nicht schon tot sein? Der Tod tritt in diesem Fall doch bereits nach wenigen Tagen ein.«
»Nicht unbedingt«, erwiderte Uthman, der sich an arabische Quellen erinnerte. »Manche berichteten von sechs Wochen schwerer Fieberschübe, von Beulen in der Leiste und am Hals, von schwärender Fäulnis. Und nach sechs Wochen heilten die Pestbeulen aus, und sie wurden gesund.«
»Dann hat sie also noch eine Chance!« Frische Hoffnung stieg in Hildegardis Blick. »In diesem Fall soll Jean-François ein Pestbild malen, es wird Angélique sicher helfen.«
»Das ist eine hervorragende Idee, Madame Maxim«, sagte Henri lächelnd.
Uthman und er blickten der Alten nach, die in die Nebenräume ging, wo die Werkstatt lag und der Geselle wartete. Über sich hörten sie ein Poltern. Das musste Sean sein, der aufgestanden war und herunterkam. Hildegardis hatte ihnen erzählt, dass er sich auf ihre Anordnung hin etwas Ruhe gegönnt hatte. Henri blickte auf Angéliques wachsweißes Gesicht hinab.
Werde gesund, flehte er. Deine Genesung wäre ein Zeichen, das unserem Leben einen neuen Sinn geben könnte. Vielleicht können wir dann alle noch einmal von vorn anfangen. Vielleicht bewirkt Seans Liebe ein Wunder. Wir dürfen nur nicht aufgeben.
Joshua dachte schon lange nicht mehr daran, dass er gerettet werden könnte. Man hatte ihn in der letzten Zeit wiederholt verlegt. Mittlerweile befand er sich in einer unterirdischen Kammer. Aber warum machte man sich so viel Mühe? Was ging da draußen vor?
In Joshua keimte Hoffnung auf. Vielleicht war er doch nicht zum Tod verurteilt, vielleicht wollte man ihn nur längere Zeit im Gefängnis behalten, um ihn zu zermürben und dann aus der Stadt zu jagen. Vielleicht befand er sich sogar nur in einer Art Schutzhaft, man wollte ihn aus dem Verkehr ziehen, solange die Seuche in der Stadt grassierte. Sobald sie überwunden war, würde man ihn freilassen, und er könnte seine Freunde Wiedersehen!
In der folgenden Nacht holte man ihn erneut. Grobe Hände fesselten ihn an Händen und Füßen, stülpten ihm einen Leinensack über den Kopf und warfen ihn auf einen Ochsenkarren. Das Einzige, was Joshua mitbekam, war, dass es dunkel war. Tageslicht hätte er selbst durch den Leinensack erkennen können. Als der Karren losholperte, schlossen sich die Eisentore des Rathauskerkers polternd hinter ihm. Joshua wurde in hin und her geworfen, die Fesseln schnitten tief in seine Handgelenke und Fußknöchel.
Joshua hätte gern gewusst, wohin man ihn brachte – die Fahrt führte anscheinend durch die ganze Stadt –, doch mehr als Dunkelheit konnte er nicht erkennen.
Ein paar Mal hielt der Karren an. Warum, wusste Joshua nicht zu sagen. Dann ruckelte er wieder los, und der Transport ging weiter. Joshua besaß längst keine Orientierung mehr. Am Anfang hatte er noch nachvollziehen können, dass man am Kirchenvorplatz vorbei durch die größte Straße Quimpers zum Bischofspalast und dann nach Norden fuhr. Doch wo sollte die Fahrt enden?
O Herr, flehte Joshua, ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Bitte hilf mir, und lass meine Gefährten mich finden!
Joshua versuchte, sich auf dem mit stinkendem Stroh ausgelegten Boden so hinzusetzen, dass seine Wunden nicht schmerzten. Aber das gelang ihm nicht. Vor allem die Bisswunden, die die Ratten ihm zugefügt hatten, schwärten und brannten schwer.
Joshua sah sich selbst in diesem Karren durch die Straßen fahren. Er hatte so etwas schon oft gesehen, den Karren eines Schinders, über den das schwarze Tuch gedeckt war. In Spanien trug dieses Tuch zusätzlich das rote Kreuz der Inquisition, vorne stand ein abgehalftertes Zugtier, auf dem Bock saß ein Landsknecht, und nebenher marschierten zwei weitere Landsknechte zu Fuß mit Spießen in der Hand. So ging es durch die Gassen, und die Menschen, die aus den Häusern traten oder eilig die Straßen entlang liefen, drückten sich beim Anblick des Gefährts an die Mauern und bekreuzigten sich. Denn oft genug waren die Gefangenen schon tot, wenn sie abtransportiert wurden. Ihr letzter Weg führte sie nur
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