Treue in Zeiten Der Pest
unverzüglich unterließ.
Die Kerkertür wurde aufgerissen. Drei Männer stürzten herein. »Aufstehen! Mitkommen! Es ist so weit!«
Joshua wurde aus seiner Ohnmacht herausgerissen. Fremde Hände rissen ihn grob in die Höhe. »Verdammtes Viehzeug!«, fluchte einer der Unbekannten. Joshua wurde geschüttelt. Ratten fielen von ihm ab, kullerten widerstandslos aus seinem Umhang hervor, die Schergen vertrieben die klumpigen Knäuel mit Fußtritten.
Joshua verstand nicht, was um ihn herum vor sich ging.
»Schämst du dich nicht, dein Leben einfach so wegzuwerfen, Jude? Wie viele Sünden willst du noch begehen? Vor dieser hier konnten wir dich ja gerade noch bewahren. Aber keine Angst, du wirst schon noch vor deinen Richter treten.«
Joshua antwortete nicht. Die Worte des Fremden ergaben für ihn keinen Sinn.
Die Männer setzten ihm einen Judenhut auf den Kopf und führten ihn nach draußen. Während sie über Gänge und Treppen eilten, stieß sich Joshua die nackten Füße blutig. Schließlich erreichte die Gruppe einen kleinen, von hohen Mauern umschlossenen Innenhof. In der Mitte stand ein Galgen.
Joshua blickte stumm zum Himmel hinauf. Es war Nacht. Der volle Mond erleuchtete die Szene – er wirkte wie ein kaltes, weißes, erbarmungslos starrendes Auge. Für Joshua vereinte sich in diesem Bild die gesamte Grausamkeit, die die Welt ihm in diesem Moment entgegenbrachte. Hast Du mein Gebet nicht gehört, Herr?, fragte er sich. Doch er spürte die Anwesenheit des Herrn nicht mehr.
Die Männer legten ihm eilig die Henkerschlinge um den Hals. Ein Mann unter einer Kutte murmelte ein schnelles Gebet. Joshua spürte den Knoten der Schlinge im Genick. Dann hörte er das Knarren der Falltür unter seinen Füßen. Ein Henkersknecht hob die Hand. Er gab das Zeichen.
Joshua empfand nichts, er starrte nur vor sich hin, auf die grauen Mauern, die ihm den Blick auf die Welt versperrten – eine Welt, die er nur deshalb so ungern verließ, weil sie ihm nicht mehr gestattet hatte, sich von seinen Freunden zu verabschieden.
Der Fall ins Bodenlose war unausweichlich.
Schon gab der Boden unter ihm nach. Zwei Meter weit ging es hinab. Aus, dachte er und wartete auf den jähen Ruck, der ihm das Genick brechen würde. Doch dann schlug er nur hart auf dem Boden auf und blieb dort liegen. Das Hanfseil, das man ihm um den Hals gewickelt hatte, fiel auf ihn nieder. Im gleichen Moment erschallte rohes Gelächter. Man hatte ihn lediglich quälen wollen. Sein Tod stand noch lange nicht bevor, und wenn es dazu kam, würde er sicherlich grausamer sein als alles, was er sich ausmalen konnte.
Nach einer Weile wurde Joshua emporgerissen und in die Dunkelheit zurückgebracht. Diesmal steckte man ihn in eine andere Zelle, doch sie unterschied sich von der ersten nur durch ihre Lage. Ob es Ratten darin gab, konnte Joshua nicht sagen. Sobald die Tür hinter ihm geschlossen wurde, umfing ihn erneute Bewusstlosigkeit.
Henri verfluchte die starken Mauern des Gefängnisses. Am Ende einer langen Suche, die äußerst vorsichtig hatte durchgeführt werden müssen, weil die Einwohner Quimpers Fremden in dieser Situation äußerst feindselig begegneten, hatte er herausgefunden, dass Joshua eingekerkert war. Ein Pförtner des neben dem Rathaus gelegenen Schmiedehauses hatte dessen Gefangennahme beobachtet, und Henri hatte ihm diese Information geschickt entlockt. Sie hatten es also tatsächlich gewagt, Joshua die Schuld für die Pest in die Schuhe zu schieben!
Damit hatte Maire Michel allerdings einen großen Fehler begangen, dachte Henri. Dafür sollte er büßen!
Henri und Uthman überdachten die Situation.
»Wir müssen ihn da rausholen«, sagte Uthman. »Freiwillig werden sie Joshua nie freilassen.«
»Nein, da hast du sicher Recht. Aber wie sollen wir ihn befreien?«
Uthman überlegte. »Vielleicht können wir uns auf einen der vielen Gefangenentransporte schmuggeln, die mittlerweile täglich am Stadtgefängnis angekarrt werden. Sind wir erst mal drin, dann sehen wir weiter.«
»So haben wir es immer gehalten«, erwiderte Henri. »Aber die Mauern sind dick und gut bewacht, und wir sind nur zu zweit. Wir haben schon oft gegen eine große Übermacht gekämpft, aber in diesen Fällen war der Kampf immer unausweichlich. Vielleicht gibt es eine andere Möglichkeit. Lass uns nachdenken. Wir dürfen Joshua auf keinen Fall gefährden.«
»Vielleicht können wir mit einem der Schließer Kontakt aufnehmen. Er könnte Joshua in einem
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