Treue in Zeiten Der Pest
krochen über die Straße oder lungerten vor Garküchen oder vor in den Boden eingelassenen Rosten herum, auf denen in Rauch und Feuer Ziegenfleisch zubereitet wurde. Viele Erkrankte waren darunter, die meisten hatten braune Flecken an Gesicht, Hals und Händen.
Am Rand der Straße entdeckte Henri plötzlich Magister Priziac. Seit Medicus Monacis sich um Angélique kümmerte, hatte er von ihm nichts mehr gehört. Das Einzige, was er wusste, war, dass Priziac sich zurückgezogen hatte und sein Spital kaum noch verließ. Henri sprach ihn an.
»Wie geht es der Tochter Maxims?«, fragte Priziac sogleich.
Henri berichtete von ihrem unverändert Besorgnis erregenden Zustand.
Der Magister zog die Stirn in Falten und nickte. »Es steht wahrlich schlimm um sie. Wie um so viele Menschen in diesen Tagen.«
»Ja, das fürchte ich auch«, sagte Henri. »Vor Jahren konnte ich in Paris eine Zeit lang Medizin studieren, daher interessiert mich sehr, womit wir es hier zu tun haben und was dagegen unternommen werden kann. Zusammen mit meinem gelehrten Gefährten Joshua ben Shimon habe ich auch einige wenige Medikamente herstellen können.«
»Habt Ihr die Wirksamkeit Eurer Medikamente prüfen können?«
»Wir stellten Mittel her, die bei Seuchen zum Einsatz kamen, die in der Erntezeit ausbrachen und bis zum Jahresende dauerten«, erinnerte sich Henri. »Gegen das tödliche Fieber, gegen Fallsucht, Scharbock und die Pocken. Dass die Mittel tatsächlich halfen, erfuhr ich von einigen Medici aus den umliegenden Provinzen, die mir Bericht erstatteten. Allerdings konnten sie nicht verhindern, dass Totengräber und Leichenwäscherinnen in den Seuchengebieten der Pockenzauberei angeklagt und verbrannt wurden!«
»Wo war das?«, fragte Priziac.
»Bei Paris, wo ich meine Ausbildung erhielt.«
»Und wie lange ist es her?«
Henri zögerte. »Ich weiß es nicht genau«, sagte er dann. »Heute kommt es mir wie eine Ewigkeit vor.«
»Hatten Sie ein geheimes Laboratorium in der Stadt?«
»Nun, ganz geheim war es nicht. Wir führten es zusammen mit einigen weiteren Personen, die sich für die Dinge der Medizin interessierten. Viele Ärzte kannten es und besuchten uns.«
»Wollt Ihr mich vielleicht ein Stück begleiten?«, fragte Priziac, der mittlerweile recht aufgeregt zu sein schien.
»Warum nicht?«, entgegnete Henri. »Ich würde in der Tat gerne sehen, wie weit sich die Seuche bereits ausgebreitet hat.«
»Dann kommt!«
Henri ließ sich von Priziac in eine nahe gelegene Gasse führen. Nach ein paar Schritten erreichten sie einen Torbogen, der sie in einen großen Hof führte. Hier standen ringsum Bänke, und zu allen Seiten öffneten sich Durchgänge.
»Kommt, kommt!« Priziac winkte den zögernden Henri heran. Gleich darauf standen sie in einem großen Saal, auf dessen Fußboden zu beiden Seiten Sieche lagen.
Ein betäubender Gestank schlug Henri entgegen. Stöhnen und Wimmern erfüllte den Saal. Die Kranken – Männer, Frauen und auch einige Kinder – lagen auf Schilfmatten. Sie wurden von einigen wenigen Gestalten in blauen Umhängen betreut, deren Gesichter bis auf die Augen verhüllt waren.
»Vor Euch seht Ihr das größte Hospital in Quimper«, erklärte der Magister. »Hier könnt Ihr sehen, was von der offiziellen Erklärung, die Pest sei so gut wie unter Kontrolle, zu halten ist.«
»Jeder weiß, dass die Pest nicht unter Kontrolle ist«, sagte Henri und packte Priziac am Arm. »Aber wenn das so ist, dann schwebt Ihr, ebenso wie alle anderen, die mit so vielen Erkrankten umgehen, in höchster Gefahr.«
»Wenn wir anfällig wären, hätte sich die Seuche bei uns schon längst bemerkbar machen müssen. Es gibt einige Menschen, die sie nicht befällt, und wir scheinen dazuzugehören. Wahrscheinlich gibt es irgendetwas, das die Seuche von uns fern hält, nur leider weiß niemand, was das ist.«
Henri nickte und sah sich seufzend im Krankensaal um. Den meisten Kranken ging es äußerst schlecht. Ihre Hälse und Gesichter sowie bei vielen auch die entblößte Brust waren mit bräunlichen Knoten und Hautverdickungen übersät. Aus einigen der Beulen traten Blut und eine weißliche Flüssigkeit. Es schmerzte bereits, diese Leute nur anzusehen.
Im hinteren Teil des Saals wurden Behandlungen durchgeführt. Henri trat zögernd näher, sein Interesse war größer als seine Angst, doch was er zu sehen bekam, war keine leichte Kost: Zwei Vermummte schnitten einem nackten Mann, der auf einem Hocker saß, Pestbeulen auf und
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